Wolfskrieger: Roman (German Edition)
ist aber gar kein Geschenk, und der Wolf fraß seinen Bruder und die Hexe, bevor ihm der König mit letzter Kraft einen tödlichen Hieb versetzen konnte, genau wie der Wolf am letzten Tag Odin töten wird, bevor er selbst umkommt. Es heißt, Loki und seine Kinder seien die Feinde Odins und seiner Helfer. Sie ebnen Odin den Weg zu seiner Bestimmung, und diese Bestimmung ist der Tod. Es gefällt den Göttern«, schloss der Fremde, »wenn ihr Schicksal im irdischen Reich wie ein Schauspiel aufgeführt wird. Der Wolf und Odin kämpfen seit unzähligen Jahrhunderten gegeneinander, und so wird es ewig weitergehen. Wenn man weiß, wohin man blicken muss, ist es leicht zu erkennen.«
»Demnach wäre Judas Jesus’ Handlanger gewesen?«
»Wie es heißt, half Judas Jesus, für die Sünden der Menschen zu sterben«, erklärte der Wanderer. »So etwas konnte doch nicht gegen den Willen Gottes geschehen, oder?«
»Es war das Werk des Teufels, der Judas’ Hände geführt hat«, widersprach der erste Jäger.
»War es der Wille des Teufels, dass den Menschen alle Sünden vergeben werden?«, fragte der Fremde. »Das wäre aber ein seltsamer Teufel.«
Wieder lachten die Männer.
»Wir sind glücklicher als du«, behauptete einer. »Wir müssen nur auf das hören, was die Priester uns predigen, und brauchen nicht darüber nachzudenken.«
»Wenn Gott uns die Wölfe schickt, dann ist uns das genug«, sagte der erste Jäger.
»Ihr solltet euch an Loki wenden«, entgegnete der Fremde. »Er ist derjenige, der die Wölfe schickt.«
»Wir beten keine Götzen an«, wehrte der zweite ab.
»Nun gut«, sagte der Fremde. »Vielleicht solltet ihr dann zu eurem eigenen Gott beten, dass Loki keinen Wolf schickt. Das Schicksal des Königs und der Hexe werdet ihr ja zweifelsohne nicht teilen wollen.«
»Auf diese Art Wölfe können wir gut verzichten«, stimmte der erste zu.
Die Männer saßen am Feuer und tranken und redeten, bis es sehr spät war. Der Fremde, der die Wälder gut kannte, erzählte ihnen von einer Höhle, die einen Tagesmarsch entfernt im Westen lag, wenn man dem nördlichen Ufer des Flusses folgte.
»Dort ist ein berühmter Wolfsbau«, erklärte er. »Immer wieder erlegen die Jäger die Tiere, doch sie kehren stets zurück.«
»Wir werden das im Auge behalten.«
Am nächsten Morgen war der Fremde bereits fort, als die Jäger erwachten. Da ihnen nichts Besseres einfiel, befolgten sie seinen Rat. Erst als der nächste Abend dämmerte, entdeckten sie hundert Schritte vom Flussufer entfernt und fünf Mannshöhen über dem Boden die Höhle in einer kleinen Steilwand.
Die Jäger sahen sich um und waren erfreut, dass sie den Kot von Wölfen und einige Hinweise auf erlegte Beute fanden. Sie lagerten in der Nähe, denn sie waren sicher, dass die Wölfe auf der Jagd waren und nicht zurückkehren würden, solange sich Menschen in der Nähe aufhielten. Trotzdem sahen sie am nächsten Tag in der Höhle nach. Am blauen Morgenhimmel stand noch der helle Mond.
Sie stiegen zum Eingang der Höhle hinauf. Der erste Jäger hob einen Stein auf und warf ihn hinein, die anderen beiden hielten die Bogen bereit. Drinnen ertönte ein Geräusch, doch keiner der beiden schoss einen Pfeil in die Dunkelheit ab. Es war nicht ausgeschlossen, dass dort drinnen ein Wanderer schlief, und als gute Christen wollten sie keinen Mord begehen. Der Jäger warf einen weiteren Stein. Dann hörten sie ein Schlurfen und bemerkten etwas. Es war heller als ein Wolf. Ein Schwein vielleicht?
»Wolf, komm heraus, was immer du bist.«
Nichts rührte sich. Der erste Jäger trat näher heran, und schließlich stellten sich seine Augen auf die Dunkelheit ein. Er keuchte, als er endlich sah, was sich in der Höhle befand. Es war kein Schwein und kein Wolf, sondern ein etwa sechs Jahre alter Knabe mit einem Schopf dunkler Haare auf dem Kopf. Er war in schrecklicher Verfassung, abgemagert und mit Augen, die viel zu groß für seinen Kopf zu sein schienen.
»Es ist ein Junge!«, rief der Jäger den anderen zu.
Er nahm einen Apfel aus seiner Tasche. Der Junge zog sich in die Höhle zurück.
»Das ist für dich … komm nur her.«
Der Junge rührte sich nicht.
»Dann esse ich ihn selbst. Schau her.«
Der Jäger biss in die Frucht, doch der Knabe wich noch weiter zurück.
Die Jäger waren einfältige Männer, aber nicht gefühllos. Es würde eine Weile dauern, das Vertrauen des Jungen zu gewinnen. Als gute Christen hielten sie es für ihre Pflicht, ihm zu helfen. Erst
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