Wolfskuesse - Mein Leben unter Woelfen
Leitwölfin springt auf die Füße und führt einen kleinen Tanz auf. Einer der Jungwölfe nähert sich unterwürfig dem Papa und leckt |102| ihm von unten die Schnauze. Der steht auf, stellt sich über ihn und wedelt mit dem Schwanz. Junior schmeißt sich auf den Boden, rollt sich auf den Rücken und stemmt alle vier Pfoten an Papas Brust. Immer mehr Wölfe werden wach und kommen hinzu. Einige haben etwas abseits zusammengerollt geschlafen. Sie erheben sich, schütteln den Schnee aus dem Fell und laufen zur Familie. Überall blitzende Augen, wedelnde Schwänze, deren Bewegungen sich auf den ganzen Körper übertragen. Jeder versucht, die Schnauze der Eltern zu lecken. Es wird geschoben und gedrängelt. Die ganz Eifrigen springen mitten in das Gewühl, um dabei zu sein. Ein Ausdruck reiner Lebensfreude.
Schließlich erhebt einer in dem Wolfsknäuel die Stimme. Andere fallen ein. Jetzt stehen fast alle und heulen in den unterschiedlichsten Tonlagen. Manche singen, andere kreischen aufgeregt. Zwei Graue heben liegend den Kopf und jubilieren. Der Gesang schraubt sich wie ein Crescendo in die Höhe und explodiert in einem grandiosen Finale.
Die ersten Wölfe laufen los. Ein paar Jungwölfe spielen noch Fangen. Aber dann setzt sich die ganze Gruppe in Bewegung und marschiert in einer Linie über den Bergkamm.
Ich bin gern allein und zähle mich eher zu den Einzelgängern. Es gibt Tage oder Wochen, da möchte ich mich vollständig zurückziehen, mit niemandem reden, niemanden sehen. Beispielsweise wenn ich an einem neuen Buch arbeite und in die intensive Endphase komme, in der der Abgabetermin schon in bedrohliche Nähe rückt. Dann entwickle ich eine feste tägliche Routine, die mir hilft, mich zu sammeln und auf das Wesentliche zu konzentrieren. Mein Leben ist dann auf die einfachsten Dinge reduziert. Essen, Schlafen, Hundespaziergang, Schreiben. Diese Struktur gibt mir eine gewisse Beständigkeit und Sicherheit, die alles Äußere unwichtig werden lässt. Aber ich muss auch aufpassen, dass ich in meinem Bedürfnis nach Zurückgezogenheit meine Freunde und Familie nicht vernachlässige. Beziehungen sind keine Einbahnstraße. Sie müssen gepflegt werden – auch wenn es mir manchmal |103| nicht passt. Die Wölfe und ihre Begrüßungsrituale erinnern mich immer wieder daran.
Kürzlich flatterte mir ein Prospekt ins Haus »Führen wie ein Alphawolf«. Es war Werbung für ein Managerseminar. In einem Wildpark sollten die Teilnehmer lernen, ihr Rudel (respektive ihre Firma) zu führen. Da stand:
»Nach den Alphatieren, die für Ruhe und Ordnung sorgen, folgt der Beta-Wolf als Durchboxer und verlängerter Arm des Chefs. Den unteren Teil des Rudels bildet die große Gruppe der sogenannten subdominanten Erwachsenen, deren Aufgabe es ist, den Nachwuchs der Alphapaare aufzuziehen. Denn auch das ist ganz klar geregelt: Nur die Leitwölfe dürfen sich vermehren.«
Ich wusste nicht, ob ich mich über so viel Unsinn ärgern oder darüber lachen sollte. Oder sollte ich eher die Firmen bedauern, auf die derart geschulte Manager losgelassen werden? Training mit Tieren liegt im Trend. Managerseminare arbeiten neuerdings nach dem »Alphaprinzip«. Für eine große Summe Geld setzen sich die Teilnehmer in ein Wolfsgehege und schauen zu, wie der sogenannte Alphawolf sein Rudel dominiert.
Aber Führungsprinzipien in einem Wolfsgehege zu lernen ist der denkbar schlechteste Ansatz. Wölfe in einem Gehege verhalten sich in vielen Situationen nicht »wolfstypisch«. Ein »Omegawolf« würde in Freiheit abwandern. Ein gemobbter Arbeiter kann die Firma verlassen, ebenso wie der »Underdog« seine Familie. Wer von Wölfen Führungsqualitäten lernen will, sollte sie in der Wildnis beobachten. In ihrem natürlichen Umfeld.
Meine erste Vorstellung davon, was einen Leitwolf kennzeichnet, bekam ich an einem Wintertag, als ich zehn Druid-Wölfe im Lamar Valley beobachtete. Wie an einer Schnur aufgereiht, zogen die Tiere durch das Tal. Die kräftigen ein- und zweijährigen Rüden vorweg. Sie schoben mit ihrer mächtigen Brust den hohen Schnee zur Seite. In ihrer Spur folgte das Elternpaar |104| 21M und 42F wie Königliche Hoheiten bei einer Parade und schonte seine Kräfte. Am Ende kamen mit etwas Abstand die Kleinen. Sie waren mit Wichtigerem beschäftigt, als Mama und Papa zu folgen. Eine interessante Spur untersuchen, Mäuse jagen oder einem Weißkopfadler hinterher schauen. Aber was machten die Leitwölfe in der Mitte des Familienzuges?
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