Wolfskuesse - Mein Leben unter Woelfen
wurde ich unruhig. Ich lebte zwei Winter in einer Künstlerkolonie in Santa Fe, New Mexico, drei Monate in Vancouver, mehrere Monate im Camper in Alaska und längere Zeit in Arizona und Maine. Ausschließlich in meiner Heimatstadt zu leben war für mich undenkbar. Zu spießig. Ich war nicht für einen einzigen Ort gemacht. Eine Zeitlang versuchte ich vergeblich, in die USA auswandern. Mein Leben war eine ewige Suche nach dem perfekten Ort. Und wenn ich dann eine Weile an diesem Ort gelebt hatte, merkte ich, dass das Gras hier auch nicht grüner war und dass irgendwo Urlaub zu machen und dort zu leben zwei völlig verschiedene Dinge sind. Ich habe in diesen Jahren wunderbare Orte gesehen und faszinierende Menschen kennengelernt. Aber ich war rastlos, blieb nirgendwo lange genug, um etwas aufzubauen.
Wie wichtig ein soziales Umfeld ist, verstand ich erst, als ich älter wurde. Als ich alles gesehen und bereist hatte und merkte, dass Heimat mehr ist als ein Ort. Heimat wurde für mich mehr und mehr ein Gefühl. Sie war dort, wo meine Familie und meine Freunde lebten. Nachbarn und vertraute Gesichter. Meine kleine, mittelalterliche Stadt mit dem Dom, den Brücken und ihrer traditionsreichen Geschichte, die ich früher so spießig gefunden hatte, wuchs mir nun mehr und mehr ans Herz.
Ich erinnere mich an ein Weihnachtsfest in Colorado. Bunt, laut, glitzernd – amerikanisch. Immer schon hatte ich amerikanische Weihnachten geliebt. Ich stand in Denver in einer |96| Shopping Mall. Überall um mich herum die prächtigsten meterhohen Weihnachtsbäume, dicht geschmückt und mit einem Meer von Lichtern. Aus den Lautsprechern tönte das Lied vom rotnasigen Rentier Rudolph. Weihnachtsmänner riefen mit »Ho Ho Ho« zu Spenden für die Heilsarmee auf, während sie heftig die Handglocken schwangen. Menschen eilten mit großen Tüten bepackt vorbei. Dann erblickte ich in der Auslage eines Reisebüros einen Fernseher, in dem ein Film für Winterurlaub in den Bayerischen Alpen warb. Ich blieb stehen und starrte auf die Fernsehbilder. Plötzlich sehnte ich mich nach Kerzenlicht und Kirchenglocken. Ich hatte Heimweh. Während ich meine Fühler in die Ferne ausgestreckt hatte, waren mir Wurzeln in Deutschland gewachsen.
Der irische Autor George Moore hat einmal geschrieben: »Ein Mensch durchreist die ganze Welt auf der Suche nach dem, was ihm fehlt – und findet es zu Hause.«
Ich wünschte, ich könnte sagen, dass ich inzwischen von meinem Reisefieber geheilt bin, aber das ist nicht der Fall. Noch immer werde ich unruhig, wenn ich ein paar Monate lang zu Hause bin. Möchte wieder raus. Vermutlich habe ich doch die Gene einiger meiner Vorfahren: Mein Großvater war als Handwerker auf die »Walz« gegangen, bevor er meine Großmutter traf und sesshaft wurde. Und eine Urururgroßmutter von mir gehörte zu den ersten deutschen Auswanderern, die es nach Texas zog.
Heute kann ich besser damit umgehen, in zwei Welten zu leben. Ich muss mich nicht mehr für die eine oder andere Welt entscheiden, sondern nehme mir das Beste aus beiden. Ich freue mich über deutsche Brötchen und bin dankbar für die soziale Absicherung in Krankheit und Alter. Dafür genieße ich die Freiheit und das entspannte Autofahren in Amerika. In Deutschland habe ich ein Haus, das mir oft zu groß vorkommt. Meine Eltern hatten mir mein Elternhaus überschrieben und waren in den Nachbarort gezogen. Jetzt habe ich deutlich mehr zu putzen, während ich es in meiner Blockhütte in den USA genieße, alles, was ich brauche, in |97| Reichweite zu haben. In Amerika mag ich die Ungezwungenheit und Freundlichkeit der Menschen. In Deutschland schätze ich die dörfliche Idylle und die Fürsorge und Freundlichkeit der Nachbarn. Auch wenn es mich immer wieder in die Ferne zieht, möchte ich nirgendwo anders mehr leben als in Deutschland, meiner Heimat.
Wichtiger noch als die Heimat ist für Wölfe ihre Familie. Glaubte man älteren Fachbüchern, dann ist es nicht besonders reizvoll, Teil einer Wolfsfamilie zu sein. Man muss sich dem Chef unterwerfen und wird je nach Position massiv gemobbt. Wenn man Pech hat, kann es sogar passieren, dass man von der eigenen Familie getötet wird. Dass es in Wahrheit ganz anders ist, erfuhr ich erst, als ich freilebende Wölfe beobachtete. Ich war fasziniert, wie liebevoll und fürsorglich die Tiere miteinander umgingen. Ich begann, mich intensiver mit dem Familienleben der Wölfe zu beschäftigen. Mich interessierte, wie so ausgeprägt soziale
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