Wolfskuesse - Mein Leben unter Woelfen
große graue Wolf, in den Wald zu der Höhle, in der er gemeinsam mit Cinderella zwei Dutzend Welpen aufgezogen hatte. Der Druid-Leitwolf saß im Schnee und heulte. Sein tiefes Klagen erfüllte tagelang das Lamar Valley. In den Tagen nach dem Tod seiner Gefährtin heulte er mehr als in den fünf Jahren, in denen er mit ihr zusammengelebt hatte. Wenige Monate später war auch er tot. Irgendwann war er einfach fortgegangen und nicht mehr zurückgekommen. Sein Skelett wurde im Norden des Parks gefunden. Die Todesursache blieb unklar.
|114| Später rekonstruierten die Biologen, was am Tag von Cinderellas Tod geschehen war. Vermutlich waren die Druids in der Nacht vor ihrem Tod auf den Bergkamm der Specimen Ridge gezogen, ins Territorium ihrer Erzfeinde, der Mollie-Wölfe. Diese Gruppe versuchte schon seit einiger Zeit, das Druid-Revier im Lamar Valley zu übernehmen. Vermutlich hatte Cinderella allein an einem Hirschkadaver gefressen, als sie von den Mollies überrascht und getötet wurde.
Nachdem wenig später auch der Leitwolf verschwunden war, herrschte Chaos in der Wolfsfamilie. Innerhalb weniger Monate hatten die Wölfe ihre Eltern und Leittiere verloren. Lange heulten sie. Suchten nach Spuren. Bis auch für sie das Leben wieder seinen Gang ging und sich ein neues Leitpaar fand.
Es berührt mich jedes Mal sehr, wenn ich sehe, wie Wölfe um verstorbene oder verschwundene Familienmitglieder trauern. Sie suchen, sind irritiert, teilweise aggressiv. Sie heulen klagend und ungewöhnlich lange. Besonders schlimm ist der Tod eines Elternpaares. Mit den Eltern stirbt auch die Erfahrung, die sie an ihren Nachwuchs weitergeben. Durch sie lernen sie, wie man jagt und überlebt. Sie sind Vorbild für ihre Jungen. Aber irgendwann müssen auch verwaiste Wolfskinder ihr Leben wieder in den Griff bekommen. Meist springen andere Familienmitglieder ein und versuchen, die Lücke zu füllen. Der hinterbliebenen Wolfsfamilie bleibt nicht viel Zeit zu trauern. Die Wölfe müssen jagen, fressen, sich fortpflanzen und um ihre Familie kümmern. Sie tun, was alle Lebewesen in der Natur tun: Sie zelebrieren das Hier und Jetzt.
Ich beneide sie um diese Fähigkeit und versuche, es ihnen nachzumachen. Aber viel zu oft mache ich mir Gedanken um die Zukunft (Wird das Geld reichen? Werde ich gesund bleiben?) oder denke an die Vergangenheit (Was wäre, wenn …? Wie hätte mein Leben ausgesehen, wenn ich mich in bestimmten Situationen anders entschieden hätte? Was hatte ich richtig, was falsch gemacht?). Solche Gedanken sind menschlich, |115| aber unnütz. Im Hier und Jetzt leben. Einmal mehr nehme ich mir vor, daran zu arbeiten. Ich muss mir nur ein Beispiel an den Wölfen nehmen. Sie akzeptieren das Leben so, wie es ist.
Nach einer dreistündigen Wanderung hoch in die Berge erreichten wir Cinderellas letzten Aufenthaltsort. Hier wollten wir von ihr Abschied nehmen. Doug Smith, der Direktor des Wolfsprojektes, hatte für uns auf einer Karte die Fundstelle der Wölfin markiert. Den Körper des Tieres hatten die Biologen zur Untersuchung ins Labor mitgenommen. Im Grunde war ich ganz froh darüber, dass es keine Überreste gab. So konnte ich sie in Erinnerung behalten, wie ich sie zuletzt gesehen hatte. Sie starb an einem wunderschönen Ort. Grüne Hügel, ein kleiner Fluss und ein Postkartenblick über den Park. Ein guter Platz, um in die ewigen Jagdgründe zu gehen.
Wir setzten uns im Kreis zusammen und gedachten der Druid-Leitwölfin. Kathie aus Colorado hatte ihr ein Gedicht geschrieben, das sie vorlas. Brian hinterließ einen selbstgeschnitzten Wanderstock. Viele Jahre war er mit ihm durch Yellowstone gewandert. Ich ließ eine besonders schöne schwarz glänzende Rabenfeder für Cinderella zurück. Wir erzählten uns Geschichten von den beiden Druid-Wölfen. Wir alle hatten so viel mit ihnen erlebt. Wir weinten und lachten und nahmen Abschied. Als es schon dämmerte, machten wir uns still auf den Rückweg.
Ich fuhr zum Pebble Creek Campingplatz. Der Platz liegt neben einer großen Wiese, die in der Dämmerung oft von Elchen besucht wird. Ray und Darlene, die Campground Hosts, kannten meine Vorliebe für die Einsamkeit und hatten mir einen schönen Stellplatz an einem kleinen Fluss reserviert.
»Wir wissen, dass du gern deine Ruhe hast«, grinsten sie bei der Willkommensumarmung und freuten sich über die Schokolade, ich natürlich auch für sie mitgebracht hatte. Noch lange unterhielten wir uns am Lagerfeuer, bis die Flammen
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