Wolfskuesse - Mein Leben unter Woelfen
Tiere können sich retten. Viele ertrinken. Obwohl es schon dunkel wurde, fuhr ich zu der Stelle und sah, dass sich das Tier zwar noch bewegte, aber schon fast bis zum Hals im Wasser steckte.
Am nächsten Morgen wollte ich wieder nach dem Bison schauen. Nach einer kalten Nacht bei minus zwanzig Grad ging ich davon aus, dass er nicht mehr lebte. Umso erschütterter war ich von dem, was ich vorfand. Anhand der Spuren konnte ich mir zusammenreimen, was geschehen war. Offensichtlich hatte das Bisonweibchen ihr einjähriges Kälbchen bei sich, als sie in das dünne Eis des Sees eingebrochen war. Bisons sind eigentlich gute Schwimmer. Aber der See war nicht tief genug. Die Tiere steckten im zähen Schlamm fest. Als ich an diesem Morgen in die kleine Parkbucht direkt oberhalb der Stelle fuhr, sah ich, dass die Bisonmutter schon ertrunken war. Aber das Kälbchen lebte noch. Es stand auf seiner toten Mutter und hielt den Kopf über Wasser. Die Luft, die es verzweifelt aus der Nase stieß, verwandelte den Atem in kleine Eiskristalle. Bei dem Versuch, im eisigen Schlammloch Halt zu finden, vergrößerte sich dieses immer mehr. Über zwanzig Stunden lang hatte das Kleine schon ausgehalten. Ich war verzweifelt, und ich war allein. Nicht bewegen, befahl ich mir selbst. Denn wann immer ich mich in meiner Parkbucht rührte, geriet das Kälbchen weiter unten in Panik, strampelte und verbrauchte so noch mehr kostbare Energie. Mir blieb nur, stillzustehen und ihm beim Sterben zuzusehen. Ab und zu sank sein Kopf ins Wasser, und ich hoffte, dass es endlich vorbei wäre. Aber dann schreckte wieder irgendetwas den kleinen Bison hoch.
Als sich ein Auto des Parkservice näherte, sprang ich auf die Straße und hielt es an. Ich zeigte dem Ranger die Situation.
»Können Sie nichts machen?«, fragte ich.
|172| Der Ranger schaute mich mit einer Mischung aus Mitleid und Besorgnis an.
»Wir greifen nicht ein. Das hier passiert tausendfach im Hinterland von Yellowstone. Dann ist auch niemand da, der hilft. Das ist halt die Natur.«
Natürlich. Er hatte vollkommen recht. Ich verstand es ja. Aber Verstehen und Akzeptieren sind zweierlei. Ich erwartete ja nicht, dass jemand eine Winde holte und das Tier herauszog.
»Können Sie den Bison nicht erschießen? Seinen Todeskampf beenden?«, schluchzte ich.
»Nein! Wenn das im Hinterland passiert, kann ich das auch nicht.«
Aber das hier war kein Hinterland. Das Tier hatte einen langen, qualvollen Todeskampf. Eine Kugel hätte ihn beenden können. Ich war ebenso empört wie die Touristen, die mich zuvor im Hayden Valley angesprochen hatten. Langsam wurde ich hysterisch. Kurz überlegte ich tatsächlich, ob ich dem Ranger die Waffe entreißen und das Tier selbst töten sollte. Offensichtlich sah er mir an, was ich im Sinn hatte. Er sprach beruhigend auf mich ein. Versuchte, mir noch einmal das »Konzept Natur« zu erklären. Mein Kopf verstand. Aber ich war nicht mehr in der Lage, Kopf und Gefühle zu trennen. Ich sprang in mein Auto und fuhr davon. In einer einsamen Parkbucht heulte ich mir die Seele aus dem Leib.
Meine extreme emotionale Reaktion erschütterte mich. Wie konnte mich dieser Vorfall so aus der Bahn werfen?
Ich habe in Yellowstone immer wieder die Erfahrung gemacht, wie sehr es einen Menschen verändert, wenn er sich längere Zeit in der Natur aufhält. Man scheint »aufzubrechen«, empfindsamer zu werden. Ich war definitiv an diesem Punkt angelangt. Nur langsam beruhigte ich mich wieder. Die aufgestauten Emotionen machten der Traurigkeit Platz. Aber auch der Gewissheit, dass alles okay war, so wie es ist. Ich nahm mir ein Beispiel an den Tieren. Sie akzeptierten, was geschah. Sie kämpften bis zum letzten Moment. Dann aber fügten sie sich |173| in ihr Schicksal. Das hatte ich schon oft beobachtet. Kein Schreien und Klagen, wie schrecklich und ungerecht diese Welt ist. Sie verstehen. Sie wissen um den Kreislauf des Lebens. Warum wehren wir Menschen uns so verzweifelt dagegen?
Ich fuhr zurück zu dem sterbenden Bisonkälbchen. Wieder war ich allein. Ich setzte mich auf einen Stein und blieb bei ihm, bis es dunkel wurde. Still betete ich für das Tier und wünschte ihm eine gute Reise in die ewigen Bisonjagdgründe, wo seine Mutter schon wartete.
Dieser Vorfall war eine große Lektion in Demut und Akzeptanz. Was noch lange nicht bedeutete, dass ich nun für alle Zeit von meinem Wunsch, mein Leben möglichst unter Kontrolle zu haben, geheilt war. Ich verzweifle immer noch, wenn ich
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