Wolfskuesse - Mein Leben unter Woelfen
Die fünf Wölfe hatten inzwischen den Grizzly vertrieben und den Kadaver zurückerobert. Wenn sie mit blutigen Gesichtern aufschauten, sahen sie aus wie Kinder, die sich über einen Riesenberg Erdbeereiscreme hergemacht haben. Die Kojoten warteten geduldig in der Nähe. Ein Weißkopfseeadler hatte sich ein Stück Fleisch geschnappt |168| und saß auf einem Felsen, um es zu fressen. Etwa zwanzig Raben saßen auf den umstehenden Bäumen und schauten begehrlich zu dem Fleisch hinunter. Die Parkbucht unten an der Straße füllte sich langsam mit Autos. Die Wolfs-Paparazzi trafen ein und stellten ihre Geräte auf. Große Objektive und Filmkameras richteten sich auf die Wölfe. Das wurde denen bald zu viel. Sie standen auf und liefen davon, nicht ohne noch gelegentlich einen sehnsüchtigen Blick zurückzuwerfen. Der Kadaver gehörte jetzt wieder den Kojoten.
|169| VON MACHT UND MACHTLOSIGKEIT
Ich entdeckte den Wolf, als ich in das weite Tal des Hayden Valley fuhr. Er lag neben einem toten Hirschkalb und rührte sich nicht. Merkwürdig. Wenn er das Kalb gerissen hatte, müsste er jetzt eigentlich daran fressen. Aber er lag nur da, mit der Schnauze im Gras und offenen Augen. Ich war erleichtert. Er war also nicht tot. Vielleicht ruhte er sich nur aus. Dann stand er mühsam auf. Es war ein Jungwolf, höchstens ein Jahr alt. Als er versuchte, ein paar Schritte zu laufen, sah ich, dass ein Bein in unnatürlichem Winkel abstand und blutete. Es war gebrochen. Mein Herz rutschte in die Magengrube. Der Wolf humpelte ein paar Schritte, trat aber nicht auf das Bein. Alle paar Meter blieb er stehen und leckte sich die Wunde. Der Schwanz, der tief unter den Bauch gezogen war, zeigte deutlich, dass er Schmerzen hatte.
Mein erster Gedanke war, den Erste-Hilfe-Kasten zu holen und das Bein zu schienen. Ich hätte ein paar nette Worte auf den Gips geschrieben: »Gute Besserung, Wolf.« Der Kleine hätte sich erholt und würde in ein paar Wochen wieder munter herumtollen.
Wie ein Hund schüttelte ich mich, um die Tagträume loszuwerden. Die Realität war ungleich brutaler. Mit sehr, sehr viel Glück würde der Bruch heilen. Wölfe haben schon erstaunliche Verletzungen überlebt. Fakt ist aber auch, dass ein Jungwolf mit einem gebrochenen Bein nicht mit seiner Familie jagen kann. Er ist hilflos. Ich sah weit und breit keine anderen Wölfe, was mich wunderte. Vielleicht hatte er sich schon von seiner Familie abgesetzt und war allein unterwegs? Oder die anderen waren weitergezogen und hatten ihn zurückgelassen, was aber sehr ungewöhnlich wäre. Normalerweise |170| kümmern sich Wolfsfamilien sehr fürsorglich um verletzte Mitglieder.
Ein Auto mit New Yorker Kennzeichen hielt neben mir an. Der Fahrer, ein Mann mittleren Alters, ließ das Fenster herunter. Die übliche Frage:
»Was gibt’s zu sehen?«
Ich zeigte auf den Wolf.
»Ist er verletzt?« Seine dunkelhaarige gepflegte Frau stieß die Autotür auf und stieg aus.
»Sieht so aus.«
»Ogottogott, der Aaaarme. Da muss man doch was MACHEN! Arbeiten Sie hier?«, fragte sie mit weit aufgerissenen Augen.
»Ich helfe im Wolfsprojekt aus.«
»Ja, dann rufen Sie doch jemand. Da muss sich doch jemand drum kümmern«, fiel jetzt ihr Mann ein, offensichtlich ganz der Manager, der es gewohnt war, dass sich »jemand kümmert«.
Die beiden sprachen mir aus der Seele. Aber ich musste sie enttäuschen.
»Es wird niemand kommen. Und selbst wenn jemand vom Park Service käme, greifen die nicht ein.«
Empörte Gesichter.
»In den Nationalparks werden die Natur und die Tiere sich selbst überlassen. Menschen greifen nicht regulierend ein. Dazu gehört auch, verletzte Tiere nicht zu versorgen«, versuchte ich zu erklären.
»Das ist doch allerhand. Das arme Tier so leiden zu lassen«, schnaufte der Mann, während die blauen Augen seiner Frau verdächtig zu glitzern begannen. Sie stiegen in ihr Auto und brausten davon.
Zuzuschauen, wie ein Lebewesen leidet, und nichts dagegen unternehmen zu können, ist vermutlich eines der schwersten Dinge für die meisten Menschen. Die Praxis des Nicht-Eingreifens erscheint auf den ersten Blick brutal. Aber sie ist, so schlimm es klingt, die einzig richtige. Zumindest meistens.
|171| Ich hatte einmal ein Erlebnis, das mich tatsächlich an den Rand der Verzweiflung gebracht hat.
Es war im April 2005. Über Funk hatte ich gehört, dass ein Bison in das Eis des Phantom Lake eingebrochen sei. Das geschieht unzählige Mal in jedem Winter und Frühjahr. Einige
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