Wolfskuesse - Mein Leben unter Woelfen
der Tag, als Jutta alles vergaß und dem »Wolfswahn« verfiel.
Wir standen mit zahlreichen Fotografen in der Parkbucht von Footbridge und beobachteten über die kleine Fußbrücke hinweg, wie ein schwarzer Wolf mit heftigen Flirtversuchen versuchte, einige der Druid-Mädels von ihrer Familie fortzulocken. Es war Paarungszeit, und die Wölfe hatten kein Auge mehr für die Menschen, die sehr nah – und äußerst diszipliniert – nur wenige Meter von ihnen an der Straße standen. Die Fotografen hatten den Moment ihres Lebens und klickten, was der Akku hergab. Jutta war mit ihrer digitalen Filmkamera |206| unterwegs und hatte in den letzten Tagen präzise jede Minute unserer Tour dokumentiert. Jetzt stand sie nah vor den Wölfen und war nicht mehr ansprechbar, so wie die meisten von uns. Dann begannen die Wölfe, nach Westen zu laufen und schickten sich an, etwa zweihundert Meter entfernt, die Straße zu überqueren. Jutta, deren Kamera am Auge festgewachsen schien, folgte ihnen. Sie marschierte einfach los, stieg über Hindernisse, lief die Straße entlang, beachtete keine Autos mehr und hatte nur noch ein einziges Ziel: Sie wollte die Wölfe nicht verlieren. Der Rest der Fotografen war stehen geblieben, um die Wölfe nicht zu stören und die Straße überqueren zu lassen. Jutta lief unverdrossen weiter. Als ich es bemerkte, war sie schon zu weit weg, um sie zurückzuholen. Ich versuchte noch, sie zu rufen.
»Jutta! Pssssst! Zurück!«, zischte ich. Vergeblich. Die Wölfe schienen unbeeindruckt von dem kleinen Menschlein mit dem dicken Auge, das ihnen folgte. Die Fotografen dagegen stöhnten, rollten die Augen und warfen mir strafende Blicke zu, weil Jutta ihnen das Motiv »verdarb«. Ich zuckte die Schultern und gab auf.
Dann schien unsere Filmerin aus ihrer Trance zu erwachen. Sie blieb stehen und überlegte.
»Plötzlich hab ich gemerkt, dass irgendetwas nicht stimmt«, erzählte sie später.
Dann drehte sie sich um und sah uns: Die Kavallerie der Fotografen aufgereiht in einer Linie, alle Objektive auf sie gerichtet. Ich – leicht versteckt – hinter ihnen. Wir konnten die Röte in Juttas Gesicht aufsteigen sehen. Nach einer kurzen Erstarrung kam sie im Eilschritt zurück.
»Sorry! So sorry!«, murmelte Jutta und errötete noch mehr.
Auf einmal fingen die vorher noch wütenden Fotografen an zu lächeln. Die kleine Filmerin gab ein solches Bild der Reue und des Jammers ab, dass sie vermutlich jeder gern in den Arm genommen und getröstet hätte – was ich schließlich auch tat. Wir alle erinnerten uns wieder daran, dass die Wölfe uns alles um uns herum vergessen lassen können. Wir verstanden |207| Jutta, denn wir alle hatten schon einmal solche Momente gehabt und würden sie wahrscheinlich auch trotz größter Selbstdisziplin wieder haben.
Dieses Erlebnis machte auch mir zum wiederholten Mal die Faszination der Wölfe deutlich. Wir können nicht hierherkommen, Wölfe sehen und wieder zum Alltag übergehen. Wer einmal eine Begegnung mit einem solchen Tier hatte, wird nie wieder der sein, der er einmal war. Er wird verändert daraus hervorgehen. Vielleicht nicht heute und nicht morgen. Aber irgendwann einmal wird er sich erinnern und seinen Kindern und Enkeln von dem Tag erzählen, als er zum ersten Mal einen wilden Wolf sah.
In den nächsten Tagen war ich mit meiner Gruppe von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang im Park unterwegs. Täglich sahen wir Wölfe, Kojoten, Bisons, Hirsche, Adler, und Henning schärfte unseren Blick für die Eichhörnchen.
Selbst Sabines Augen schienen sich auf die feinen Nuancen der Wildtierbeobachtungen durch ein Spektiv einzustellen. Anfangs hatte sie kaum etwas durch das Okular gesehen.
»Wo? Wo denn? Was seht ihr denn alle?«, klagte sie oft verzweifelt, während sie dagegen mit dem Fernglas auch den winzigsten Wolf entdeckte. Aber nach und nach schlossen auch Sabine und das Spektiv Freundschaft, und Sabine lernte die Vorteile der sechzigfachen Vergrößerung des Spektivs gegenüber ihrem Fernglas zu schätzen.
Nur selten schafften wir es, uns nach der Heimkehr ins Hotel noch einmal zusammenzusetzen, um bei einer Pizza über das Tagesgeschehen zu sprechen. Alle waren zu müde von der Kälte und den aufregenden Beobachtungen und machten sich meist schnurstracks auf den Weg ins warme Bett, um am nächsten Morgen wieder fit für neue Wolfssichtungen zu sein.
Am letzten Tag kletterten wir noch einmal auf Daves Hill. Von hier aus konnten wir drei Wolfsreviere
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