Wolfskuesse - Mein Leben unter Woelfen
kletternden Sonne glitzerte. Weit unter uns lag die Buffalo Ranch. Hier fanden Ende des 19. Jahrhunderts die letzten fünfzig Bisons Zuflucht vor der Ausrottung. Dreißig bis sechzig Millionen Tiere waren getötet worden. Eine unfassbare Zahl, die mir immer wieder Angst macht vor dem Vernichtungswillen der Menschen. Aus diesen letzten geschützten Bisons gingen die heute in Yellowstone lebenden mehr als viertausend Tiere hervor, die einzigen genetisch reinen Nachkommen der großen Bisonherden.
Bisons haben mich schon immer fasziniert. Trotz ihrer Kraft und Stärke strahlen sie Ruhe und Sanftmut aus. Wie oft beobachte ich sie, wenn sie sich liebevoll um ihre Kälber kümmern. Staune erschrocken, wenn im Sommer während der Brunftzeit der Boden unter ihnen bebt und die Luft von tiefem Grollen tönt. Halte ehrfürchtig den Atem an, wenn eine Bisonfamilie einem verstorbenen Mitglied den letzten Respekt erweist und sich mit gesenkten Köpfen um das Tier aufstellt. Viel zu wenig wissen wir noch von dem komplexen Sozialleben dieser Tiere aus prähistorischer Zeit.
|199| Die aufsteigende Sonne wärmte uns. Nach und nach zogen alle ihre warmen Jacken aus.
»Reibt euch bitte mit Sonnencreme ein, und trinkt genügend Wasser«, riet ich allen.
»Ja, Mami«, scherzten sie zurück.
Nur zu leicht vergisst man, dass man sich hier auf zweitausendfünfhundert Metern Höhe befindet. Das Gehen mit den Schneeschuhen strengte uns alle an, und wir machten immer häufiger Pausen. Noch ein kleiner Hügel, dann erreichten wir den kreisrunden Stahlzwinger. Die Sonne hatte einen Teil des Schnees aufgetaut. Wir zogen die Schneeschuhe aus, öffneten das Tor und gingen hinein. Die hölzernen Hütten, die ursprünglich als Schutz für die Wölfe gebaut worden waren, zerfielen langsam. Die Wölfe hatten sie nur als Aussichtsplattform genutzt. An einigen Stellen, wo die Sonne den Schnee geschmolzen hatte, waren noch ein paar ausgeblichene Hirschknochen zu sehen.
Das Rose-Creek-Gehege ist die letzte Erinnerung an die ersten Wölfe, die Yellowstone-Boden betraten. Es ist im Laufe der Zeit eine Art »Kultstätte« für uns Wolfsbeobachter geworden. Als einmal Pläne der Parkverwaltung bekannt wurden, das Gehege abzureißen, gab es einen Proteststurm der Wolfsfans. Hier war die »Geburtsstätte« der Yellowstone-Wölfe. Hier hatte alles angefangen.
Wir setzten uns zusammen, und ich erzählte noch einmal die Geschichte der Wiederansiedlung und Episoden von einzelnen, ganz besonderen Wölfen. Es herrschte eine eigenartige Stimmung. Andacht, Staunen, Ehrfurcht. Ich wusste, dass jetzt jeder mit seinen Gedanken für sich allein sein wollte. Alle suchten sich einen Platz, um zur Ruhe zu kommen.
Ich setzte mich unter eine dicke Fichte. Den Rücken an den Baum gelehnt, hatte ich einen weiten Blick über die umliegenden Berge. Wie immer, wenn ich hierherkam, überfluteten mich die »Nähe« zu den Wölfen und die Erinnerung an ihren Aufenthalt im Gehege mit Gefühlen und Fragen.
Wie mag sich wohl ein Wolf gefühlt haben, als er hierherkam? |200| Herausgerissen aus seiner Familie, betäubt, von menschlichen Händen vermessen und gewogen, eingesperrt in einen engen, dunklen Käfig. Transportiert unter ohrenbetäubendem Lärm, bis sich schließlich die Käfigtür öffnet und er sich erneut in Gefangenschaft befindet. Verzweifelt versucht er, der fremden Welt zu entkommen. Fort von diesen schrecklichen Gerüchen der Zweibeiner. Aber es gibt keine Fluchtmöglichkeit. Kletterversuche scheitern am Überhang des Zauns. Am Gitter beißt er sich die Lefzen blutig, aber der Zaun gibt nicht nach. Schließlich gibt er auf und tut das, was Tiere schon immer getan haben, um zu überleben: Er passt sich an. Er läuft immer wieder denselben Pfad am Rand des Zauns entlang. Eine schmale, ausgetretene Spur, auf der keine Vegetation mehr wächst, zeugt heute noch davon. Der Wolf gründet eine neue Familie. Frisst das Futter, das ihm die Zweibeiner bringen. Schaut auf die großartige Landschaft, die vor ihm liegt. Ob Wölfe von Freiheit träumen? Wissen sie überhaupt, was das ist?
Ein Rabe musterte uns neugierig und mit zur Seite gelegtem Kopf vom Zaun herab. Die Raben von Yellowstone sind für ihre Klugheit bekannt und dafür berüchtigt, dass sie gelernt haben, Klettverschlüsse an Rucksäcken zu öffnen, um an Futter zu kommen. Bei mir hatte er wenig Chancen, denn ich hatte mein Picknick schon verzehrt. Ich hätte ihn ohnehin nicht gefüttert.
Der Rabe saß genau dort,
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