Wolfskuesse - Mein Leben unter Woelfen
wo der Maschendraht geflickt war. Als man im März 1995 nach sechs Wochen Gefangenschaft die Türen des Rose-Creek-Geheges öffnete, um die Wölfe freizulassen, verließ kein Tier sein Gefängnis. Sie hatten viel zu viel Angst vor dem Tor, durch das die Menschen stets das Futter gebracht hatten. Erst als die Biologen nach zwei Tagen das Gitter in der hinteren Ecke des Geheges aufschnitten, taten die Wölfe ihre ersten Schritte in die Freiheit.
Ich schaute hinüber zu meiner Gruppe. Katrin saß auf einem umgestürzten Baum. Sie war in Gedanken versunken. Henning |201| ging seiner Lieblingsbeschäftigung nach: Er fotografierte Eichhörnchen. Die kleinen Nager hatten es ihm angetan. Hatte er eines entdeckt, verlor er oft jedes Zeitgefühl, was dazu führen konnte, dass ich ihn von einem Eichhörnchen buchstäblich losreißen musste, damit wir rechtzeitig bei den Wölfen waren. Verrückte Welt.
Sabine schaute mit verklärtem Blick in die Ferne. Und »Adlerauge« Rolf hielt mit dem Fernglas schon wieder Ausschau nach Tieren. Sie alle würden diesen magischen Ort nie mehr vergessen.
Ich freute mich mit ihnen. Das war es, wofür ich diese Wolfsreisen machte. Nicht allein, um den Menschen die Wölfe zu zeigen, sondern vor allem, um ihnen verständlich zu machen, dass Wölfe – ebenso wie wir – ein Teil des Ökosystems sind.
Und auch ich lerne viel von meinen Mitfahrern. In jeder Gruppe gab es Menschen, die besondere Fähigkeiten hatten, von denen wir alle lernen konnten. Da war Doris, die Geologin. Sie hatte die Gabe, große geologische Zusammenhänge so einfach und spannend zu erklären, dass wir niemals vergaßen, dass wir auf einem Supervulkan herumspazierten. Markus war unser Vogelexperte. Wir konnten fast sicher sein, wenn Markus durch sein Fernglas sah und ein langes »Wow!« ausstieß, dass er keinen Wolf meinte, sondern einen seltenen Vogel erkannte, den er auf seiner Liste abhaken konnte. Udo von der Leica Akademie gab uns einen Crashkurs in Sachen Blende und Tiefenschärfe. Und von den vielen, vielen Hundetrainern, die auf den Wolfsreisen mit dabei waren, erfuhren wir immer noch die eine oder andere Neuigkeit aus der Hundeszene, die sich dann gut am Beispiel des »Originals« diskutieren ließ.
Vor allem lerne ich von meinen Reiseteilnehmern Geduld, Toleranz und Akzeptanz. Manchmal testet der eine oder andere meine Grenzen, ganz so wie Jungwölfe bei ihren Eltern. Dann liegt es an mir, zu zeigen, was ich von den Wölfen in Sachen Führungsqualität gelernt habe.
Aber wenn ich sehe, wie meine Wolfsfans mit völlig verklärtem |202| Gesicht den Wölfen zusehen oder wenn ihnen die Tränen in die Augen treten, wenn sie einen Wolf heulen hören, dann fühle ich eine tiefe Zuneigung in mir aufsteigen: Ich weiß genau, wie sie sich jetzt fühlen. In diesen Augenblicken fühle ich mich durch die Tiere mit ihnen verbunden. Und ich bin ihnen unendlich dankbar, dass ich es sein darf, die dieses Erlebnis mit ihnen teilt.
Mich fröstelte. Es war kalt und spät geworden. Wir hatten die Zeit vergessen. Als es wieder anfing zu schneien, machten wir uns auf den Rückweg. Nur noch schemenhaft nahmen wir die Umrisse der Buffalo Ranch wahr, als wir näher kamen.
Die Wölfe lieben den Schnee. Sie sind geradezu verrückt danach. Selbst bei minus dreißig Grad lassen sie sich ungerührt einschneien. Ihr dickes Fell schützt sie. Sie sind perfekt für dieses Leben ausgestattet. Wir dagegen waren froh, als wir wieder ins warme Auto steigen konnten.
Ein paar Tage später standen wir im Lamar Valley und beobachteten wieder die Druids, als ein gelber Schulbus voller Kinder und Jugendlicher in die Parkbucht fuhr. Die Blicke, die sich die Wolfsbeobachter zuwarfen, sprachen Bände. Jugendliche in der Gruppe = Desinteresse = Lärm = Anarchie. Aber schnell zeigte sich, dass wir uns geirrt hatten. Lehrer und Kinder stiegen lautlos und sehr diszipliniert aus und gesellten sich zu Rick, der ihnen einen Überblick über die Wolfsfamilie gab, die wir gerade beobachteten.
»Da sind tatsächlich Wölfe?«, wollten zwei schlaksige Vierzehnjährige wissen.
»Ja, seht selbst.« Wir luden sie ein, durch die Spektive zu schauen. Einer nach dem anderen trat heran und blickte durch das Objektiv den spielenden Druids zu.
»Wow!«
»Cool!«
»Die sind sooo schön«, seufzten die Mädchen.
»Echte Wölfe!«
|203| Die Teenager waren fasziniert.
»Das sind ihre ersten Wölfe«, sagte die Lehrerin und bedankte sich für die Hilfe mit
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