Wolfsmale
ja...«
Ja.
Es war ein weiterer arbeitsreicher Tag für sie gewesen, ein Tag, an dem sie vorgab, etwas zu
sein, das sie nicht ist, aber jetzt war sie wieder unterwegs, auf der Jagd. Allmählich beginnt
sie zu genießen, wie sie sich so reibungslos zwischen den beiden Welten hin und her bewegen kann.
Am frühen Abend war sie zu einer Dinner-Party in Blackheath eingeladen gewesen.
Pseudogeorgianische Eleganz, unbehandelte Kieferntüren; das Gespräch drehte sich um
Studiengebühren und Faxgeräte, Zinssätze und ausländisches Eigentum - und um den Wolfsmann. Man
fragte sie nach ihrer Meinung. Ihre Meinung war ausgewogen, intelligent und liberal. Es gab
kühlen Chablis und eine ausgezeichnete Flasche Chateau Montrose, den 82er. Sie konnte sich nicht
zwischen den beiden entscheiden, also trank sie von jedem ein Glas.
Einer der Gäste kam zu spät, ein Journalist von einer der besseren Tageszeitungen. Er
entschuldigte sich. Man fragte ihn, welche pikanten Details denn morgen in der Zeitung stehen
würden, und er gab großzügig Auskunft. Seine Zeitung hatte noch einen Ableger, ein anspruchsloses
Boulevardblatt. Er erzählte ihnen, dass man dort am nächsten Tag mit der Schlagzeile DAS GEHEIME
LEBEN DES SCHWULEN WOLFSMANNS aufmachen würde. Selbstverständlich weiß der Journalist, dass das
nichts weiter als ein Trick ist, um den Killer zu ködern. Und sie weiß das natürlich auch. Sie
lächeln sich über den Tisch zu, während sie gekonnt eine weitere Ladung Pasta auf ihre Gabel
lädt. Wie dumm von ihnen, eine solche Geschichte zu bringen: schwuler Wolfsmann, also wirklich!
Sie kichert in ihr überdimensionales Weinglas. Das Gespräch wendet sich dem Verkehr auf der
Autobahn zu, dem Kauf von Wein, dem Zustand des Blackheath Common. Black Heath ist natürlich der
Ort, an dem man die Pestopfer begraben hat, Berge von Leichen. Schwarzer Tod. Black Death. Black
Heath. Nur ein Buchstabe trennt die beiden voneinander. Darüber lächelt sie auch, aber
diskret.
Nach dem Essen fuhr sie mit dem Taxi zurück über den Fluss und stieg am Anfang ihrer Straße aus.
Eigentlich wollte sie sofort nach Hause, doch sie ging an ihrer Tür vorbei und dann immer weiter.
Sie sollte das nicht tun, sollte nicht hier draußen sein, aber es scheint ihr dennoch
richtig.
Schließlich muss sich das Spielzeug in der Galerie einsam fühlen. Es ist immer so kalt in der
Galerie, so eisig, dass einem vor Kälte die Nase abfallen könnte.
Ihre Mutter muss ihr das erzählt haben. Ihre Mutter. Lange Nasenhaare, Johnny, sind so unschön
bei einem Herrn. Oder ihr Vater, der Nonsens-Lieder sang, während sie sich im Garten versteckte.
»Scheißkunst«, faucht sie leise vor sich hin.
Sie weiß auch, wohin sie gehen muss. Nicht weit. Die Kreuzung einer Straße mit einer sehr viel
größeren. Davon gibt es viele in London. Ampeln und ein paar Frauen, die hin und her schlendern,
manchmal an der Ampel die Straße überqueren, damit die Autofahrer sie sehen können, ihre Beine
sehen können und ihre weißen Körper. Wenn ein Autofenster heruntergekurbelt wird, beugt sich
manchmal eine Frau zu dem Fahrer herunter, damit sie die Bedingungen aushandeln können.
Professionell, aber nicht sehr diskret. Sie weiß, dass die Polizei halbherzige Versuche
unternimmt, die Geschäfte zu unterbinden, sie weiß aber auch, dass Polizisten zu den besten
Kunden der Huren gehören. Deshalb ist es gefährlich für sie, hierher zu kommen. Gefährlich, aber
notwendig. Denn sie verspürt den Drang, und Frauen wie diese verschwinden doch ständig,
oder?
Da schöpft niemand Verdacht. Da fängt niemand an, die Alarmglocken zu läuten. Alarmglocken sind
das Letzte, was man in diesem Teil der Stadt gebrauchen kann. Wie bei ihrem ersten Opfer - als
man die Frau fand, war sie bereits zu Rattenfutter geworden. Futter für Tiere. Sie fängt wieder
an zu kichern und will gerade an einer der Frauen vorbeigehen, doch dann bleibt sie stehen.
»Hallo, Schätzchen«, sagt die Frau. »Suchst du was Bestimmtes?«
»Wie viel für die Nacht?«
»Für dich, Schätzchen, einhundert.«
»Na schön.« Sie dreht sich um und macht sich auf den Weg zurück zu ihrer Straße, zu ihrem Haus.
Da ist es viel sicherer als hier draußen. Die Frau folgt ihr geräuschvoll in ein bis zwei Metern
Abstand, scheint es zu verstehen. Sie lässt sich nicht von der Frau einholen, bis sie vor der
Haustür steht und der Schlüssel im Schloss steckt. Die Galerie wartet. Bloß dass sie nicht
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