Wolfsmondnacht (German Edition)
fielen. Er wartete einen Moment, bis die Tinte getrocknet war und starrte auf die steile Handschrift, bevor er den Papierbogen zusammenfaltete, den Umschlag beschriftete und versiegelte.
Auch an Pamina richtete er einen Brief voller Ausflüchte. Geschäftlich sei er unabkömmlich, was derzeit nicht einmal eine Lüge war. Unter all seiner Verzweiflung über seine Zwangslage und der Sehnsucht nach Pamina mischte sich Enttäuschung, da sie seinen letzten Brief nicht beantwortet hatte.
Konnte sie vielleicht gar nicht lesen? Sie war ein Mädel vom Land. Womöglich hatte sie ihn angelogen aus unnötiger Scham um ihre Unwissenheit. Zumindest sagte Jean-François sich das. Doch sie hätte jemanden konsultieren können, der ihr den Brief vorlas und eine Antwort für sie verfassen konnte.
Bereits morgen würde Estelle die Briefe einem Boten übergeben. Binnen einer Woche würden sowohl Céleste als auch Pamina einen Brief und ein kleines Geschenk von ihm erhalten. Céleste schickte er einen der besten Weine, mit denen Monsieur Blanchard handelte.
Pamina jedoch übersandte er etwas Persönlicheres. Eine Strähne seines Haares und ein Taschentuch, in dem er Paminas Initialen »PC« hatte sticken lassen. Er hoffte, die Geschenke würden sie besänftigen und ihr Beweis genug sein, dass er an sie dachte.
Wie gerne würde er nach Dôle reisen, doch er konnte es nicht, bevor er die Blutlust nicht unter Kontrolle hatte.
Wie so viele Nächte zuvor fragte er sich, warum Amaël nicht geblieben war. Zumindest einige Zeit hätte er bleiben können, um ihn einige Dinge zu lehren. Was wusste Amaël über seine Art, was Jean-François womöglich niemals erfahren würde? Wo lag der Ursprung der Bluttrinker? Was machte sie zu dem, was sie waren? Was wusste er von jenem Wesen, das ihr aller Ursprung war?
Jean-François fühlte sich allein. Niemandem konnte er sich anvertrauen, nicht einmal seiner Schwester. Keiner durfte wissen, was mit ihm geschehen war. Man landete schnell auf dem Scheiterhaufen. Auch immer mehr Männer fanden ihr Ende in den Flammen. Als Sohn der Hure und Giftmischerin Suzette war er der Bevölkerung ohnehin suspekt.
Als der Morgen nahte, ging er hinunter in den Keller. Direkt am Ende der Stufen befand sich an der linken Seite ein Brunnen. Der Keller selbst bestand aus drei Kammern, deren letzte nach rechts abzweigte und hinter einer schweren, metallbeschlagenen Eichentür in das Gewirr unterirdischer Gänge führte, die von den alten Steinbrüchen stammten.
Noch hatte Jean-François ein wenig Zeit bis zum Sonnenaufgang. Eine halbe Stunde, vielleicht auch etwas mehr. Er folgte einem der unterirdischen Gänge. Es roch dort muffig. Einmal scheuchte er Fledermäuse auf, die hier offenbar ruhten.
Bald gelangte er zu einem Ausgang, der von einem schweren Eisengitter verschlossen war. Er kämpfte sich durch das Dornengestrüpp, das sowohl den Gang als auch das Gitter vollständig verbarg, und landete im Hintergarten einer alten Kirche. Überreste von Grabsteinen verrieten ihm, dass früher hier ein Gottesacker gewesen war, den man verlagert hatte. Er war nicht der erste, dem dieses Schicksal widerfahren war.
Jean-François machte kehrte und verschwand wieder in der Dunkelheit im Bauch der Erde. Er verschloss die schwere Tür, die seinen Keller von den Stollen abgrenzte.
Im hintersten Raum besagten Kellers hatte Jean-François sein Bett aufgestellt. Auf dieses ließ er sich niedersinken, nachdem er sich entkleidet hatte.
Er fühlte sich müde. Es war keine körperliche Erschöpfung. Diese kannte er nicht mehr, solange er genügend menschliches Blut zu sich nahm. Er war leistungsfähiger als jemals zuvor in seinem Leben oder Nicht-Leben. Es war mentale Erschöpfung, die er verspürte.
Sie kam von den Geheimnissen, die er hütete. Das, zu dem er geworden war und das er vor allen verbarg, sowohl vor Fremden als auch vor den Menschen, die ihm etwas bedeuteten. Alle waren jetzt so weit von ihm entfernt. Er gehörte nicht mehr zu ihnen. Gleichgültig, wohin er ging, er war ein Fremder in der eigenen Stadt. Er war allein, wirklich allein.
Trotz all der dicken Mauern spürte er den Sonnenaufgang. Jener Moment, an dem Tag und Nacht sich begegneten, schien außerhalb der Zeit zu stehen. Für einen Augenblick stand die Welt still und hielt ihren Atem an. Ihr Herzschlag verhallte im Nichts. Alles war in diesem Moment des Zwielichts gefangen, jedwede Möglichkeit lag darin verborgen.
Alles, was war, ist und sein konnte verband
Weitere Kostenlose Bücher