Wolfsmondnacht (German Edition)
sich die Huren ihrem Nachtwerk wieder zu, doch Jean-François wusste, dass die Ruhe trügerisch und von nicht allzu langer Dauer war.
Er betrat seinen Raum, um sich umzuziehen. Er verstand ihre Erregung. Er konnte es ihnen nicht verdenken, doch sah er derzeit keine andere Lösung. Gleichzeitig wusste er, dass er sie nur begrenzte Zeit hinhalten konnte. Sie waren nicht dumm. Früher oder später würden sie herausfinden, dass mit ihm etwas nicht stimmte.
Am nächsten Abend erwachte Jean-François durch einen unmenschlichen Schrei, der sogleich verklang. In der Tat hatte er nicht von einem Menschen gestammt, wie Jean-François bemerkte, als er die tote Ratte neben sich sah.
Ratten konnten eine Leiche innerhalb von vierundzwanzig Stunden bis aufs Skelett kahl fressen. Für einen Toten hatte sie ihn gehalten und mit ihrem Leben dafür bezahlt.
Reflexartig hatte er sie getötet, ohne sich dessen bewusst gewesen zu sein. Selbst in diesem todesgleichen Zustand war er alles andere als wehrlos. Einerseits beruhigte ihn dies, da er nach der Sache mit dem Champignonzüchter befürchtete, während der Tagesstarre aufgegriffen und vernichtet zu werden. Andererseits war er selbst für jemanden gefährlich, den er liebte, sollte dieser ihn schlafend vorfinden.
Voller Wehmut dachte er an Céleste, die sich Sorgen um ihn machen würde. Was sagte er ihr nur? Würde er sie jemals wiedersehen? Er würde nicht altern und sie niemals bei Tage aufsuchen können. Irgendwann würde Céleste Verdacht schöpfen. Sie würde Fragen stellen, die er nicht beantworten konnte. Zudem waren die Bewohner Dôles misstrauischer als die an anderen Flecken dieser Erde.
Céleste würde ihn womöglich akzeptieren, wie er jetzt war, doch was war mit Pamina? Ihre Liebe war jung und zerbrechlich. Würde sie auf ihn warten und seinen Ausflüchten Glauben schenken? Getrieben von seiner Liebe zu ihr, lief verließ er den Steinbruch. Er roch die Nacht und es entgingen ihm nicht die Geräusche der Stadt und das Getrippel der Ratten, die vor ihm flohen. Nur wenig Licht gab der wolkenverhangene Mond.
Zuerst suchte er das Bordell auf. Die Huren waren bereits zu beschäftigt, um ihm Aufmerksamkeit zu schenken. Unbehelligt erreichte er seinen Raum, der durch eine versteckte Tür mit seinem Arbeitszimmer verbunden war. In letzterem empfing er für gewöhnlich Kunden, während er im anderen schlief und dort alles aufbewahrte, was ihm wichtig war.
Er nahm sein Schreibzeug aus der kleinen Truhe. Vorsichtig öffnete er das Tintenfass und tauchte seinen Rabenfederkiel hinein.
In diesem Moment dankte er Suzette im Stillen, dass sie es ihm ermöglicht hatte, das Schreiben zu erlernen. Es war nicht selbstverständlich, schon gar nicht für den Sohn einer Hure, selbst wenn Suzette eine der gehobeneren Klasse gewesen war. Stets hatte sie dem Vorbild der venezianischen Kurtisanen nachgeeifert, die gebildet und belesen waren. Sie hatte ihr Geld zusammengehalten und es zielgerichtet verwendet. Er hoffte, dass er dasselbe Geschick besaß wie sie. Auch im Schreiben, als er die Worte zu Papier brachte.
Liebste Pamina,
leider bin ich aus geschäftlichen Gründen längere Zeit verhindert, nach Dôle zu kommen, was mich sehr bekümmert. Sei versichert, dass ich mich aufmache, sobald es mir möglich ist.
Bis in meine Träume verfolgst du mich, Nymphe. Kaum eine Sekunde vergeht, in der ich nicht an dich denke.
Schicke mir etwas von dir, ein Taschentuch, Unterwäsche, eine Strähne deines duftenden Haares.
In Liebe,
Dein Jean-François
Selbst wenn Pamina nicht selbst würde lesen können, so war es ihr gewiss möglich, einen verschwiegenen Geistlichen zu finden, der ihr das Geschriebene vorlas. Er faltete den Brief sorgfältig zusammen, versah ihn mit Paminas Anschrift in einem Gasthaus, versiegelte ihn und legte ihn dorthin, wo stets die ausgehenden Briefe des Bordells darauf warteten, von Estelle zur Post gebracht zu werden.
Seine Gedanken waren auch noch bei Pamina, als er das Haus verließ, um zu Monsieur Blanchards Haus zu gehen. Dieser würde ihm helfen. Auf ihn konnte er sich verlassen.
Jean-François klopfte. Bald öffnete ihm ein Diener, um ihn hineinzugeleiten.
»Ah, Bonsoir Monsieur Merdrignac. Was führt Euch zu mir, verehrter Freund?« Monsieur Blanchard zupfte an seinem Spitzbart.
»Eine Schwierigkeit. Ich möchte günstig ein Haus in der Rue Mouffetard mieten.«
Monsieur Blanchard sog laut die Luft ein. »Das ist nicht so einfach. Die Häuser dort sind
Weitere Kostenlose Bücher