Wolfsmondnacht (German Edition)
weitere kommt es auch nicht mehr an.«
Am nächsten Abend
Die Nacht war noch jung, als Jean-François die Rue de la Lingerie entlangschritt. Das Mondlicht und die Kerzen hinter den Fensterscheiben der Häuser vermochten die Dunkelheit nicht zu vertreiben. Er bewegte sich mit ebensolcher Sicherheit wie bei Tage. Nicht umsonst hatte er sein ganzes Leben in Paris verbracht. Auch bei Nacht kannte er seinen Teil der Stadt auswendig.
Jean-François war auf dem Weg zu Suzettes Grab. Er trug eine Friedhofsvase mit sich, die einst seiner Mutter gehört hatte. Darin befanden sich Schwertlilien, die ihre Lieblingsblumen gewesen waren. Sie entließen ihren Veilchenduft in die Nacht.
Die Geräusche der Stadt erschienen ihm fern, als er den Cimetière des Innocents betrat. Dunkel war es hier und still bis auf das Plätschern des Wassers, das die Kaskaden des Fontaines des Innocents herablief. Jean-François beugte sich über den Brunnen, um die Vase zu befüllen. Er mochte das Gefühl des kühlen Wassers, wie es über seine Hände lief. Es prickelte auf seiner Haut. Zudem lenkte es ihn von dem hier allgegenwärtigen Verwesungsgestank ab. Dieser drang aus den Massengräbern, wo die Erde bereits höher war als die nahe Straße.
Jean-François lief durch die Reihe der Gräber. Von Hunden ausgegrabene Schädel und Knochen glommen im Mondlicht. Zumindest dieses Schicksal blieb Suzette erspart, denn von ihr war nichts mehr übrig als Asche.
Die Erinnerung an ihre Hinrichtung war noch zu frisch. Lebhaft drängten sich die Bilder in seinen Geist. Jean-François konzentrierte sich auf die Kühle der Vase in seiner Hand. Endlich erreichte er das Massengrab, in dem die Überreste seiner Mutter beigesetzt worden waren in einer Urne, die so schmucklos war wie ihre Hurengewänder einst.
Die Vase stellte er auf die ebenste Stelle des Grabes. Der blumig-frische Veilchenduft durchdrang die Luft und maskierte den Gestank, der aus den Gräbern kroch. Das Mondlicht verlieh den weißen Blüten einen bläulichen Schimmer. Einen Moment blieb Jean-François vor dem Grab stehen, doch er verspürte nichts für die Frau, deren Überreste hier vergraben lagen. So ging er wieder. Dies war kein Ort für Lebende, nicht mal einmal einer für Tote. Hier wollte er nicht enden.
Er verließ diesen Ort und folgte der Rue des Innocents. Auch hier war die Nacht undurchdringlich und die stechenden Gerüche des Friedhofs wogten über die Straße. Instinktiv spürte er die Gefahr. Er sah zwei Schatten nahe der Abzweigung zur Grant Chaussée de Monseigneur Saint-Denis. Vorsichtig schlich er die Straße entlang.
Er hatte sich nicht geirrt. Ein Dolch blitzte im Mondlicht auf. Er kam rechtzeitig zu den beiden Männern, bevor der Angreifer seine Tat vollenden konnte. Dieser drehte sich überrascht um und wollte auf Jean-François einstechen. Doch er war aufgrund seiner Kindheit straßenkampferprobt. Geschickt wich er dem Dolch aus und schlug den Mann nieder. Die Waffe fiel klirrend zu Boden. Jean-François hob sie auf. Der Mann starrte Jean-François überrascht und ungläubig an. Blut rann an seinem Mundwinkel herab. Er rappelte sich auf und rannte davon, als sei der Leibhaftige hinter ihm her.
Jean-François betrachtete den Angegriffenen. Er war ein kleiner Herr mit einem Spitzbart. Er war sehr blass.
»Wie fühlt Ihr Euch, Monsieur?«, fragte Jean-François.
Der Mann fuhr sich nervös mit seinen ringbesetzten Händen durch sein schulterlanges dunkles Haar.
»Wie man sich fühlt, wenn man beinahe mit aufgeschlitzter Kehle im Rinnstein gelandet wäre. Merci, Monsieur. Ihr kamt gerade noch rechtzeitig.« Der Mann zog seinen kurzen pelzverbrämten Umhang enger, als friere er. Seine Halskrause hatte Flecken vom Blut aus einer kleinen Schnittwunde an seinem Kinn.
» Bonsoir , Monsieur, mein Name ist Blanchard. Ich bin neu hier in der Stadt, um Handel zu treiben.«
Jean-François reichte ihm lächelnd die Hand. » Bonsoir , Monsieur Blanchard. Die Straßen hier sind sehr unsicher in der Nacht. Ihr tätet gut daran, nicht alleine auszugehen, schon gar nicht ohne Waffe.«
»Was Ihr nicht sagt, Monsieur …«
»Merdrignac.«
»Ihr habt meinen Besitz und mein Leben gerettet, Monsieur Merdrignac. Wenn ich etwas für Euch tun kann, lasst es mich wissen.«
Jean-François lächelte. »Ihr könnt in der Tat etwas für mich tun«, sagte er und offenbarte Monsieur Blanchard seine geheimen Pläne. Dieses nächtliche Zusammenkommen war ein Glücksfall für sie
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