Wolfsmondnacht (German Edition)
beide.
Nur zwei Tage später begann Jean-François eine Lehre bei Monsieur Blanchard, eine Möglichkeit, die Suzette ihm niemals gelassen hatte. Denn er wusste, dass er nicht bis ans Ende seiner Tage eine Hure sein konnte und wollte. Jedoch hatte er in den nächsten Wochen noch einige andere Dinge zu erledigen.
6. Juli 1560
Jean-François stieg in Dôle vom Kobelwagen. Normalerweise fuhren nur Weiber, Kinder, Kranke oder Greise damit. Ein Mann reiste zu Pferde, doch solche Dinge kratzten nicht an Jean-François’ Stolz. Er hatte seine Gründe dafür, dieses Gefährt gewählt zu haben.
Lächelnd sah er seiner Schwester Céleste entgegen, die auf ihn zustürmte. Ihr Haar, so rotblond, wie das ihrer Mutter einst, wehte hinter ihr her wie eine Flamme.
» Mon frère !« Sie hauchte ihm Küsse auf beide Wangen. »Ich habe dich so vermisst. Ohne dich ist es so öde hier. Ich kenne nur die Kirche, Küche und Hausarbeit. Es ist zum Verzweifeln. Ich sterbe vor Langeweile. Wie gerne hätte ich mit dir zusammen ein aufregendes Leben in Paris.«
Jean-François erwiderte ihre Küsse nicht weniger ungestüm. »Du hättest höchstens einen aufregenden Tod in Paris, und ob der so erstrebenswert wäre, ist höchst zweifelhaft. Der Preis, dort zu leben, ist hoch für mich, ma chère , zu hoch. Du würdest ihn nicht bezahlen wollen.«
»Ein wenig mehr Abenteuer würde meinem Leben nicht schaden. Ich möchte Paris sehen. Ich war nicht mehr dort, seit ich ein kleines Kind war.«
»Was auch gut so ist. Die Kindersterblichkeit dort ist sehr hoch.«
Sie stemmte die Arme in die Hüften. »Ich bin kein kleines Mädchen mehr, Jean-François. Ich weiß genau, dass die hohe Kindersterblichkeit nicht der einzige Grund war, warum du mich nach Dôle hast bringen lassen.«
Er betrachtete sie nachdenklich und sah die Erkenntnis in ihren grünen Augen, die denen ihrer Mutter so ähnlich waren. Ja, sie wusste, was er war und dass Suzette ohne zu zögern aus ihr dasselbe gemacht hätte wie aus ihm.
Sanft küsste er Céleste auf den Mund. »Non, du bist kein Kind mehr, ma chère .« Er ließ seine Finger durch ihre goldblonden Locken gleiten. »Du bist auf dem Weg, ein Weib zu werden, ein sehr schönes Weib. Gerade deswegen ist es noch gefährlicher für dich in Paris. Tag und Nacht werden Leute auf offener Straße überfallen. Non, ma petite , hier bist du viel sicherer.« Vor allem würde es gefährlich für sie werden, wenn die Leute erfuhren, dass sie seine Schwester war. Viele dachten, die Tochter und Schwester von Huren sei dasselbe wie ihre Verwandtschaft und gingen so mit ihr um. Zudem hatte er Feinde, deren Gefährlichkeit er noch nicht genau abschätzen konnte.
»Aber ich sterbe vor Langeweile«, sagte Céleste.
»Lieber vor Langeweile sterben als an einem Messer im Herzen.«
»Aber eines Tages werde ich Paris sehen und wissen, wie du lebst.«
»Das wirst du nicht wissen wollen.«
»Ich kenne die Gerüchte.«
»Von denen viele allzu wahr sind.«
»Nichts davon schmälert meine Liebe für dich.«
Jean-François umfasste sanft ihr Gesicht und beugte sich zu ihr, sodass seine Stirn die ihre berührte. »Ich möchte dich in Sicherheit wissen.«
»Zu Mutters Bestattung hättest du mich nach Paris lassen können.«
Sie hatte ja nicht geringste Ahnung, vor was er sie beschützen wollte.
»Es war dunkel und stürmisch. Du hättest dir den Tod geholt.«
»Sie hat mich so selten besucht und jetzt ist sie tot. Ich kannte sie kaum.« Eine Träne rann über Célestes Wange.
»Scht. Du wirst doch um dieses Weib nicht weinen.«
»Aber bedeutet es dir denn gar nichts, dass sie tot ist?«
Jean-François starrte sie an. Was bedeutete ihm Suzette? Sie war der Grund, warum er seit seiner frühesten Kindheit seinen Körper verkaufte. Wenn er an sie dachte, spürte er nur Leere in sich.
»Ich weiß es nicht«, sagte er.
»Trotzdem war sie unsere Mutter. War er da?«
»Wer?«
»Unser Vater.«
Jean-François verspannte sich. »Du meinst Émile? Wir haben keinen Vater, hatten niemals einen.«
»War er da?« Ungeduld lag in Célestes Worten.
»Bei der Bestattung, doch nicht bei ihrer Hinrichtung.«
»Wie starb sie?«
»Es war nicht schön, ma petite . Sei froh, dass du nicht dabei warst.«
»Sie wurde verbrannt, nicht wahr? Hier in Dôle machen sie es nicht anders. Du ahnst gar nicht, wie viele Leute sie schon als Hexen oder Werwölfe verbrannt haben. Sie veranstalten eine Jagd nach der anderen und misstrauen allen, die anders
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