Wolfsmondnacht (German Edition)
gefärbtem Leder. Ein schmales Bett, ein Tisch, ein Stuhl und eine Truhe aus dunklem Holz standen im Raum.
Bisher hatte er keinen Bedarf gesehen, sein Zimmer in diesem Bordell zu einem wirklichen Zuhause zu machen. Es gab keinen Ort, der ihn würde halten können, sollte es ihn woandershin ziehen. Unabhängig und frei war er.
Er öffnete die Truhe. Sie enthielt nur ein paar Kleidungsstücke und zwei Decken. Neben seinen Schreibutensilien auf dem Tisch und etwas Winterkleidung in Suzettes Haus in der Rue des Rats waren sie seine einzigen Habseligkeiten. Er machte sich daran, zu packen, denn er gehörte nicht zu den Leuten, die leere Worte ausstießen.
Er fuhr herum, als die Tür aufschwang und jemand hereintrat. Estelle stand dort. Eine Sorgenfalte zog sich über ihre Stirn. Aus steingrauen Augen, die bereits zu viel gesehen hatten, sah sie ihn an. »Bitte geh nicht fort.«
»Was sollte mich noch hier halten? Soll ich wirklich seinen Wein mit meinem Leib bezahlen?«
»Das verlangt niemand von dir.«
»Ach, nein? Du hast doch gehört, dass der Laden jetzt ihm gehört.«
»Das glaube ich nicht. Suzette hätte dich niemals so verraten.«
Niemals verraten? Suzette hatte ihn verraten, kaum dass er geboren war, aber offenbar wollte Estelle dies verdrängen. »Bist du dir dessen so sicher?«
»Gewiss, Suzette war unberechenbar, doch dir und deiner Schwester steht ein Pflichtteil zu. Émile kann gar nicht alles gehören.«
»Suzette hat uns alle schon vor Jahren eine Pflichtteilsverzichtserklärung unterschreiben lassen.«
Estelle starrte ihn ungläubig und fassungslos an. »Sie hat was? Warum?«
Er hob die Achseln. »Woher soll ich wissen, welcher Teufel sie da schon wieder geritten hat?«
»Nein, ich fragte, warum du so was unterschrieben hast.«
»Warum sollte ich mich verrückt machen über ihre Launen? Soll sie den Puff vererben, an wen sie will. Schließlich gehörte er ihr. Meinetwegen hat sie ihn der Kirche vermacht.«
Estelle sah ihn skeptisch an. »Die würden sich freuen.«
»Das gibt viele Steuereinnahmen.«
»Warte die Testamentseröffnung ab. Suzette wird dich nicht vergessen haben. Émile regt sich so auf, weil du nur sein Stiefsohn ist, was einen Nießbrauch zu seinen Gunsten unmöglich macht.«
»Ich halte ohnehin überhaupt nichts von Nießbrauch. Da soll er lieber gleich alles haben, anstatt aller Rechte, während ich die meisten Pflichten trage. Non, non, nicht mit mir. Ich werde Madame Piedeleu noch heute nach einem neuen Arbeitsort für mich fragen.«
»Überstürze nichts. Du weißt, dass ich mit Émile nicht gut zurechtkomme. Lass mich nicht mit ihm allein. Ich bin zu alt, um noch mal neu anzufangen. Außerdem hast du Suzette versprochen, das Bordell weiterzuführen. Schon vergessen?«
Jean-François biss sich auf die Unterlippe. Der düstere Abend, an dem sie Suzette ins Gefängnis Grand Châtelet gebracht hatten, war ihm unauslöschlich in Erinnerung geblieben. Sie flehte nicht. Sie bettelte nicht. Einzig ein Versprechen nahm sie ihm, ihren einzigen überlebenden Sohn, ab.
Doch bei ihr wusste man nie. Er vertraute keiner Frau, die ihn als Kind hatte ersäufen wollen. Schlimm genug, dass er so weichherzig war, dass sie ihm überhaupt ein Versprechen hatte abringen können.
Er nickte. »Also gut, solange alles ungeklärt ist, bleibe ich bei euch.«
»Merci, Jean-François. Wusste ich es doch, dass du mich nicht hängen lässt.«
»Danke mir nicht zu früh. Wenn Émile das Haus gehört, bin ich schneller weg, als du furzen kannst. Meinetwegen vererbt sie das Bordell an die Kirche, doch unter Émile arbeite ich nicht.«
»Er wird sowieso bald wieder verschwinden und sich irgendwo rumtreiben. Du musst dich nicht fürchten, mit ihm jeden Tag zusammen sein zu müssen.«
Jean-François nickte. »Genau das ist eine der Schwierigkeiten, die ich mit ihm habe. Er treibt sich wochenlang rum, doch wenn er wieder hier auftaucht, lässt er den Chef raushängen.«
»Ich weiß auch nicht, warum Suzette es sich gefallen ließ. Jemand anderes hätte dies nicht mit ihr tun können.«
»Die Liebe geht manchmal seltsame Wege«, sagte Jean-François.
»Immerhin ist er Célestes Vater.«
»Aber nicht der meine, und dass er Célestes Vater sei, dem wäre ich mir nicht so sicher. Zumindest hinsichtlich ihres Wesens hat sie gottlob nichts von ihm geerbt.«
»Besser, wir lassen ihn in dem Glauben, sie sei seine Tochter.«
Er hob die Schultern. »Hier besteht ohnehin alles aus Lügen. Auf eine
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