Wolfspfade 6
meine Wut nur weiter an. „Es ist nicht das erste Mal, dass er ohne Erklärung wegbleibt.“
„Was soll das heißen?“
„Das, was ich gesagt habe. Von Zeit zu Zeit braucht Johnny eine Auszeit, und die nimmt er sich dann. Aber er kommt immer zurück.“
„Vorausgesetzt, er dümpelt nicht auf dem Grund des Lake Portchartrain herum“, grummelte ich.
„Das tut er ganz bestimmt nicht.“
King schien sich ganz sicher zu sein, und da er Rodolfo besser kannte als ich, ließ ich mich schließlich überzeugen. Gleichzeitig glaubte ich zu wissen, wovon Johnny eine Auszeit brauchte. Von mir.
Also verzichtete ich trotz meiner inneren Unruhe darauf, nach ihm zu suchen. Ich sah noch nicht mal im zweiten Stock nach. Sollte er je zurückkehren, wüsste er, wo er mich finden würde.
Trotzdem schlief ich nicht gut. Jede Nacht starrte ich aus meinem Fenster, während der Mond erst auf drei Viertel seines Umfangs schrumpfte, dann zu einer Sichel, bevor er am Ende ganz verschwand und der Himmel bis auf die Sterne dunkel wurde.
Von unten ertönte ein dumpfer Aufprall. Da King schon vor Stunden gegangen war, lenkte mich das Geräusch von meiner Betrachtung des marineblauen Himmels ab. Ich machte einen Schritt in Richtung Tür, als mich ein Kreischen vor dem Haus gerade noch rechtzeitig zum Fenster zurücksprinten ließ, um einen plumpen, untersetzt wirkenden Schatten davonhasten zu sehen.
„Es gibt keine Schweine in New Orleans“, murmelte ich, obwohl ich nicht wusste, ob das der Wahrheit entsprach.
Ich spähte die Gasse hinab, aber dort war nichts und niemand. Ich beschloss, nach unten in die Bar zu gehen und mir eine Flasche Wasser zu holen. Das gab mir etwas zu tun.
Ich hatte noch immer niemanden gefunden, der Katie wiedererkannte, und das, obwohl mit den täglich zunehmenden Mardi-Gras-Festivitäten auch die Zahl der Gäste angestiegen war. Ich würde noch bis zum Beginn der Fastenzeit bleiben, wenn sich die Touristenströme logischerweise lichteten, und dann nach Hause zurückkehren.
Der New Orleans Times-Picayune zufolge hatte es keine weiteren Vermissten- oder Mordfälle gegeben – zumindest keine unerklärlichen. Ich hatte ein paarmal mit Sullivan gesprochen, und er hatte dies bestätigt. Falls tatsächlich ein Serienkiller sein Unwesen trieb, wartete er möglicherweise auf den nächsten Vollmond, es sei denn, er hatte die Stadt verlassen oder war selbst von einem vorzeitigen Tod ereilt worden.
Stirnrunzelnd dachte ich an Harvey Klingman.
Jeder Gedanke an ihn verschwand wie der Blitz aus meinem Kopf, als ich mein Zimmer verließ und im selben Moment Zigarettenqualm roch. Dieselbe Tür wie damals stand einen Spaltbreit offen, und als ich sie aufstieß, erkannte ich, dass der Altar wieder da war.
Dieses Mal wusste ich es besser, als mich davonzustehlen und dem Ding die Gelegenheit zu geben, sich in Luft aufzulösen. Ich trat ein und sammelte die winzigen Holztiere ein. Die Kerze erlosch so plötzlich, als wäre sie von einem unsichtbaren Atem ausgeblasen worden.
Vollständige Dunkelheit hüllte mich ein und ließ mich erschaudern. Obwohl meine Augen weit geöffnet waren, konnte ich nichts sehen. Wie ertrug Rodolfo das bloß?
Ein weiteres dumpfes Geräusch von unten veranlasste mich, die Figuren in die Tasche meines Schlafanzugs zu stopfen und auf leisen, nackten Sohlen die Treppe hinunterzuhuschen.
In der Bar war es genauso dunkel. Ich spürte eine Bewegung im Raum, wusste jedoch nicht, in welcher Richtung. Ich kollidierte mit einem Stuhl; ich stolperte über einen Tisch. Vielleicht war die Bewegung ja meine eigene.
Trotzdem hätte ich schwören können, jemanden schwer atmen zu hören, und das so nahe, dass ich es auf meiner Haut fühlte. Ich blieb stehen und ließ, fest darauf vertrauend, jemanden oder etwas zu treffen, die Arme kreisen, aber da war nichts.
Das Auftreten eines Fußes hinter mir, ein leises Seufzen vor mir, die Luft schien zu vibrieren. Ich war desorientiert, verängstigt und wünschte mir, in meinem Zimmer geblieben zu sein.
Als plötzlich mit einem Knall die Hintertür aufflog, spendete eine ferne Straßenlaterne gerade genügend Licht, um mich erkennen zu lassen, dass niemand hier war außer mir. Aber wer hatte dann die Tür geöffnet?
Höchstwahrscheinlich der flüchtende Altarbauer.
Rasch lief ich zur Tür, schlug sie zu und drehte den Schlüssel um, bevor ich in den Gästebereich zurückkehrte und das Licht anknipste. Ich schrie auf, als plötzlich eine breite, mannshohe Gestalt
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