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Wolfspfade 6

Wolfspfade 6

Titel: Wolfspfade 6 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lori Handeland
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gehen“, verkündete er.
    „Wohin?“
    „Nach Hause. In meine Wohnung.“
    „Du kannst bei mir bleiben.“
    „Ich habe meinem Vermieter versprochen, ihm heute Morgen die Miete zu geben, außerdem …“ Er strich über mein Haar. „Ich denke, du brauchst etwas Ruhe.“
    Das war richtig. Und obwohl ich nichts dagegen gehabt hätte, die Geschehnisse der letzten Nacht in den Armen dieses Mannes zu vergessen, war es für mich genauso okay, alles in einem tiefen, festen, ungestörten Schlummer zu vergessen. Abgesehen davon kam es mir ein bisschen – unanständig? unsensibel? abstoßend? – vor, mit einem Mann zu schlafen, während ich um einen anderen trauerte.
    Ich begleitete John zur Tür. Im Lokal waren sämtliche Lichter ausgeschaltet. Alles wirkte verwaist. „Vielleicht sollte ich dich nach Hause bringen.“
    „Ich mach das.“ Kings hünenhafte Gestalt tauchte aus der Dunkelheit auf. Ich schrak zusammen. John nicht. Wahrscheinlich hatte er die ganze Zeit gewusst, dass der Barkeeper hier sein würde.
    King starrte John mehrere Sekunden lang an. Zwischen ihnen fand irgendein Austausch statt, und das, obwohl John gar nicht wissen konnte, dass King ihn anstarrte. Jedenfalls nickte er, und die beiden zogen ab.
    Ich folgte ihnen nach draußen. Ein seltsamer Dunst zog vom Fluss herauf – tatsächlich war er so dicht, dass man ihn als Nebel bezeichnen konnte. Die beiden Männer wurden fast augenblicklich von ihm verschluckt.
    Ich blieb mehrere Minuten auf der Veranda stehen und ließ den warmen Dunst über mein Gesicht streichen. In der Ferne ertönte ein Horn – eines der Schiffe auf dem Mississippi setzte ein Warnsignal ab.
    Als ich mich umwandte, um nach drinnen zu gehen, hörte ich eine Stimme im Wind. „Anne?“
    Zögernd hielt ich inne. „John?“
    „Geh nicht.“
    Ich glaubte die Stimme zu kennen. Aber die Nacht, meine Erschöpfung, das eigenartige wirbelnde Grau verzerrte sie gerade stark genug, dass ich mir nicht ganz sicher war.
    Dann hörte ich das Knurren. Es war leise, bösartig und sehr nah. Meine Nackenhärchen richteten sich auf. Die feuchtwarme Nacht wurde kalt.
    Ich hätte in die Bar rennen und die Tür zuknallen sollen. Stattdessen blieb ich wie gelähmt vor dem hinteren Eingang stehen, die Augen unverwandt auf die Schatten fixiert, die durch den Nebel waberten. Dann nahm einer von ihnen Gestalt an und kam auf mich zu, aus einer anderen Richtung als der, in die John und King verschwunden waren.
    Ein Mensch, kein wildes Tier. Ein einzelner Mann, nicht zwei.
    Jemand, den ich schon erkannte, noch bevor er aus dem Nebel getreten war.

 
    23
    „Sullivan“, wisperte ich.
    Die Straßenlaterne, die wenige Blocks entfernt stand, erhellte die schimmernden grünen Kleeblätter seiner Krawatte, die lose vor seinem blutbefleckten Hemd baumelte. Sein Sakko und einer seiner Schuhe fehlten. Das Loch in seiner Kehle fehlte ebenfalls.
    Ich kniff die Augen zusammen, dann riss ich sie wieder auf.
    Von der klaffenden Halswunde fehlte noch immer jede Spur. Ich konnte zwar nicht gerade behaupten, dass ich sie vermisste, trotzdem …
    „Das ist unmöglich.“
    Sullivan grinste, und ich erschauderte. Waren seine Zähne immer schon so spitz gewesen?
    „Conner“, stammelte ich. „Wir müssen dich ins Krankenhaus bringen.“
    „Das denke ich nicht.“
    Seine Stimme war unverändert, abgesehen von diesem kehligen Gurgeln, das eher wie ein Knurren klang und das seltsame Grollen erklärte, das aus dem Nebel gedrungen war. Hatte die Verletzung seine Stimmbänder beschädigt? Hatte es überhaupt eine Verletzung gegeben?
    Ja . Das Blut an ihm war real gewesen, außerdem war ich nicht die Einzige, die ihn in einer ganzen Lache davon auf dem Boden hatte liegen sehen. Er war in einem Krankenwagen abtransportiert worden. Dr. Haverough zufolge war er gestorben.
    „Anne.“ Er kam näher, wobei er schwankte, als wäre er benommen oder krank. Vermutlich konnte der Tod so etwas bei einem Menschen bewirken.
    Ich kicherte leicht hysterisch, und Sullivan blieb stehen, den Kopf zur Seite gelegt wie ein Hund, der in weiter Ferne etwas gehört hat.
    „Ich fühle mich so merkwürdig“, murmelte er und fiel auf die Knie.
    Ohne nachzudenken, eilte ich zu ihm und beugte mich über ihn, um ihm aufzuhelfen und ihn nach drinnen zu bringen, bevor ich das zweite Mal innerhalb von vierundzwanzig Stunden die Polizei alarmieren würde. Nur dass er mich, kaum hatte ich ihn berührt, anknurrte.
    Ganz im Ernst. Er stieß das tiefste,

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