Wolfspfade 6
stand er einfach auf, schlug alles kurz und klein und stürmte zum Vordereingang hinaus.“
Meine Tränen versiegten, und meine Lungen füllten sich wieder mit Luft. „Er war gar nicht tot?“
„Offensichtlich nicht.“
„Da hatte er ja wirklich Glück, dass Sie keine sofortige Obduktion angeordnet haben.“
Haveroughs Mund wurde schmal. „Fehler kommen vor, und Wunder geschehen. Nichtsdestotrotz ist die Halsverletzung des Detectives sehr ernst. Ohne eine Behandlung wird er nicht überleben.“
„Es gab die Befürchtung, dass er sich mit Tollwut infiziert haben könnte.“
„Das ist mir bekannt. Allerdings wäre das aufgrund der Inkubationszeit der Krankheit nicht unmittelbar lebensbedrohlich; der Blutverlust hingegen schon.“
„Wenn er so stark geblutet hat, sollte er eigentlich eine Spur hinterlassen, der selbst Sie folgen können.“
„Da haben Sie recht. Eigentlich sollte er das.“ Die Verwirrung in der Miene des Arztes wurde noch deutlicher. „Aber die hat er nicht hinterlassen.“
22
Mit dem Eintreffen der Polizei steigerte sich das Chaos noch. Die Beamten reagierten ebenso wenig belustigt wie ich, als sie feststellen mussten, dass ihr Detective spurlos verschwunden war. Sie bestätigten, was Dr. Haverough gesagt hatte.
Keine Blutspur.
Ich überließ sie ihren Such- und Rettungsmaßnahmen. Da ich mich in der Stadt nicht auskannte, würde ich ihnen keine große Hilfe sein. Zuvor nahm ich Mueller noch das Versprechen ab, mich sofort anzurufen, sobald sie Sullivan gefunden hatten – ob tot oder lebendig.
Trotzdem wanderte ich, in der Hoffnung ihn aufzuspüren, durch die Straßen des French Quarter, allerdings ohne Erfolg. Als ich schließlich zum Rising Moon zurückkehrte, war die Morgendämmerung nicht mehr fern. In der Bar brannte noch Licht, auch wenn keine Musik mehr zu hören war. Ein paar letzte Nachtschwärmer hielten noch die Stellung.
King schaute hoch. Ein Blick in mein Gesicht genügte, und er verkündete: „Feierabend, Leute.“
Die Gäste warfen ein paar Münzen neben ihre halb leeren Gläser und verließen das Lokal. Ich überlegte, ob wohl je einer protestierte, und falls ja, wie King darauf reagierte.
„Was ist passiert?“, wollte er wissen.
„Detective Sullivan wurde verwundet.“
Ich hatte nicht vor, ihm die ganze Geschichte über den Wolf, die Tollwut, die zerfetzte Kehle und das Blutbad zu berichten. Ich wusste noch nicht mal, ob ich es durfte.
King runzelte die Stirn. „Geht es ihm so weit gut?“
„Er ist, noch bevor er behandelt werden konnte, aus dem Krankenhaus getürmt, und jetzt durchkämmen sie die ganze Stadt nach ihm. Die Ärzte befürchten, dass er die Nacht ohne medizinische Versorgung nicht überleben wird.“
„Ich mag ihn nicht“, sinnierte King, „aber ich wünsche ihm auch nichts Schlechtes.“
Da war ich mir zwar nicht so sicher, aber ich behielt meine Meinung für mich.
„Ich räume noch schnell auf, dann bin ich weg“, informierte er mich.
„Soll ich dir zur Hand gehen?“
„Aber immer doch.“ Er zwinkerte mir zu. „Nein, leg dich schlafen. Du siehst völlig fertig aus.“
Das war ich auch.
Ich dachte noch nicht mal daran zu fragen, ob John zurückgekommen und wieder gegangen war oder zumindest angerufen hatte. Aber als ich auf meinem Weg nach oben die Bürotür passierte, wurde sie im selben Moment geöffnet. Der Mann hatte Ohren wie ein …
Keine Ahnung. Irgendetwas mit wirklich guten Ohren.
„Anne.“
John lehnte im Türrahmen, sein aus der Hose hängendes Hemd verkehrt zugeknöpft, sein kurzes Haar so verstrubbelt, wie kurzes Haar eben verstrubbeln kann. Seine Hose war geschlossen, aber voller Knitterfalten, und seine Füße waren nackt – blass, lang und so elegant wie seine Finger. Das einzig Ordentliche an ihm war sein sorgfältig gestutzter Kinnbart.
Wie konnte er den überhaupt so gepflegt halten? Ich bezweifelte, dass King ihm das abnahm, aber was wusste ich schon von den beiden?
„Hast du geschlafen?“, fragte ich.
„Nein.“ Er streckte die Hand nach mir aus, und ich glitt in seine Arme. Ich musste dringend gedrückt werden. Er strich mit der Nase über meine Wange, dann fand sein Mund den meinen. Er schmeckte dunkel, rot, samtig.
Ich löste mich von ihm. „Hast du getrunken?“
Er schenkte mir ein Lächeln, das süß und sexy zugleich war.
„ Un poco .“ Seine Hand tastete nach meiner und fand sie. „Trink ein Glas mit mir, chica .“
Ich wollte schon Nein sagen, doch er wirkte so
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