Wolfspfade 6
schwarzen Wolf doch erlauben sollen, ihn zu töten. Bloß dass die Vorstellung, Sullivan sterben zu lassen, ohne auch nur versucht zu haben, ein Heilmittel zu finden, undenkbar war.
Der schwarze Wolf verharrte am Rand des Nebels. Trotz seiner bizarren menschlichen Augen war er in jeder Hinsicht ein Wolf – wild, frei, majestätisch.
„Wer bist du?“, fragte ich leise, und er legte den Kopf schräg. „John?“
Der Name schlüpfte einfach so heraus; warum, verstehe ich selbst nicht. Das Tier heulte weder vor Schmerz noch verwandelte es sich zurück in einen Menschen. Stattdessen starrte es mich weiter voller Gemütsruhe an.
„John Rodolfo“, versuchte ich es noch einmal.
Er wandte sich langsam ab und verschmolz mit der nachlassenden Dunkelheit.
Die Liste, die ich im Internet gefunden hatte, half mir offenbar nicht weiter. Aber natürlich wäre es cleverer gewesen, Sullivans Namen zu rufen, denn bei dem blonden Werwolf war ich mir sicher gewesen, wie er hieß.
Ich legte eine Hand an meine Stirn, hinter der ein pochender Kopfschmerz eingesetzt hatte. Innerhalb weniger Stunden hatte sich meine gesamte Welt verändert. Werwölfe wandelten unter den Menschen; die Toten erwachten zu neuem Leben, und wenn es hart auf hart kam, würde ich einen mir lieben Mitmenschen mit einer Silberkugel erschießen müssen.
Vorausgesetzt ich konnte eine auftreiben.
Die ersten Sonnenstrahlen blinzelten durch den schwindenden Nebel. Zeit zu duschen, meine blutige Kleidung auszutauschen und mich noch mal mit Maggie zu unterhalten.
„Sie ist nicht gekommen.“
Der Junge mit den Zöpfchen bediente auch heute hinter dem Tresen des Cafés. Als ich gestern hergekommen war, um nach Maggie zu fragen, hatte ich dieselbe Antwort erhalten. Dieses Mal würde ich bleiben, bis ich herausgefunden hatte, wo sie steckte.
„Ist sie im Urlaub?“
„Sie hat ihre Schicht verpasst. Das sieht ihr überhaupt nicht ähnlich.“
Leise Besorgnis breitete sich in meinem leeren Magen aus. „War schon jemand bei ihr zu Hause?“
„Das ist nicht meine Baustelle, Süße. Wollen Sie jetzt einen Kaffee, oder wollen Sie keinen?“
Ich hatte einen gewollt, als ich reingekommen war; jetzt bezweifelte ich, ob ich ihn würde bei mir behalten können.
„Wo wohnt sie.“
„Das ist nicht …“
Ich hob die Hand. „Ihre Baustelle. Schon klar. Wie sieht es mit ihrem Nachnamen aus?“
Er guckte mich forschend an. „Stehen Sie auf sie oder so was?“
„Wie bitte?“
„Lesben. Mädchen mit Mädchen. Wollen Sie es deshalb wissen? Weil ich nämlich nicht glaube, dass Maggie in die Richtung tickt. Andrerseits …“ Er zuckte mit den Achseln. „Was weiß ich schon?“
Meine Kopfschmerzen meldeten sich wieder. Koffein würde wahrscheinlich helfen, aber mir fehlte die Zeit. Ich hatte ein sehr ungutes Gefühl wegen Maggie.
„Nachname“, verlangte ich mit zusammengebissenen Zähnen.
„Schwartz“, antwortete er. „Jetzt, wo Sie fragen, fällt mir ein, dass sie mal gesagt hat, sie würde in der Nähe der Tulane wohnen.“
„Danke.“
Ich zahlte für eine halbe Stunde Computerbenutzung, was die kürzeste Zeitspanne war, die man buchen konnte, und fand ihre Adresse in fünf Minuten heraus. Eine kurze Taxifahrt später klopfte ich, darauf hoffend, dass sie öffnen und stinksauer reagieren würde, weil ich sie geweckt hatte, an Maggies Tür.
Leider kein Glück.
Ich versuchte, die Klinke zu drücken – ohne Erfolg. Danach wandte ich mich an ihre Nachbarn, die verständlicherweise nicht allzu erfreut waren, mich zu dieser frühen Morgenstunde zu sehen.
„Wer zum Teufel sind Sie?“, begrüßte mich der verschlafene, unrasierte junge Mann aus 1-C.
„Ich bin auf der Suche nach Maggie.“ Angesichts seiner verständnislosen Miene zeigte ich auf ihre Wohnung. „Ihre Nachbarin.“
„Die scharfe Braut?“
Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte. Maggie hatte sich als liebenswertes Mädchen entpuppt, aber scharf?
„Dunkle Haare, helle Augen, Schlangen-Tattoo“, half ich ihm auf die Sprünge.
„Ja. Heiße Schnitte. Von der würde ich gern mal naschen.“
Zu viel Information, dachte ich, behielt das aber für mich. Er schien sie zumindest flüchtig zu kennen.
„Sind Sie ihr in letzter Zeit mal begegnet?“
„Nein.“ Sein Gesichtsausdruck verwandelte sich von debil-lüstern in verwirrt. „Das ist eigenartig.“
„Ich nehme nicht an, dass Sie einen Schlüssel zu ihrer Wohnung besitzen oder wissen, wer einen haben
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