Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Wolfsruf

Titel: Wolfsruf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S.P. Somtow
Vom Netzwerk:
jammernde Jonathan Kippax. Erst jetzt merkte ich, dass sich Preston zu uns gesellt hatte. Wie ein Schatten war er in den Raum geschlichen. Und ich hatte den Indianer, der sich absolut geräuschlos anpirscht, immer für ein Klischee gehalten.
    »Wann krieg’ ich die Medizin, Doc? Mir tut’s arg weh.«
    Dr. La Loge sagte: »Das ist nie zuvor passiert.« Er war wie vor den Kopf gestoßen. »Er ist noch nie spontan aus der Hypnose erwacht. Ich habe ihn immer herausführen können - das waren Sie. Was immer Sie zu ihm gesagt haben, Sie müssen an eine sehr traumatische Erinnerung gerührt haben, Carrie.«
    »Ich will bloß hier raus.« Hilfe suchend wandte ich mich an Preston. Er erschien mir wesentlich attraktiver als je zuvor. »Preston …«
    »Komm mit, Baby«, sagte er. Es störte mich nicht einmal, dass er mich mit einem Kosenamen ansprach.
    »Bitte …«
    Dr. La Loge widmete sich wieder seinem Patienten und flüsterte ihm von Neuem das magische Wort ein. »Lupus, Lupus, Lupus.« Ohne jeden Effekt. Dann beugte sich La Loge über den Tisch und legte eine der alten Schellackplatten auf das Grammofon. Sie war verkratzt, aber ich konnte einen näselnden, wahrscheinlich deutsch singenden Tenor hören, außerdem ein begleitendes Klavier. Das Lied klang irgendwie vertraut. Es war in Moll, bedrückend. Es schien ihn an etwas zu erinnern. Mich auch, aber ich wusste nicht, an was. Es besänftigte ihn. Er
legte sich in eine Ecke des Bettes, verwandelte sich wieder in den kleinen Jungen, lutschte am Daumen.
    Johnny Kindred sagte zu Preston: »Du bumst sie jetzt, oder?«
    »Ja«, antwortete Preston offen, fast verächtlich. Ich widersprach ihm nicht. Es war erregend, ihn das sagen zu hören; ein solches Verhalten war mir vollkommen fremd.
    »Seid vorsichtig«, mahnte Johnny Kindred und schaute uns mit traurigen, sehnsuchtsvollen Augen an. »Ich fühle etwas Böses. Ich glaube, jemand kommt. Jemand, den wir lange nicht gesehen haben.«
    »Wir sehen uns dann beim Mittagessen«, erklärte Sterling La Loge. »Ich glaube, für heute hatte er genug Aufregung.«
     
    Dr. La Loge war während des Mittagessens noch schweigsamer als sonst, aber ich war zu gedankenversunken, als dass mir das unangenehm gewesen wäre. Preston war irgendwohin verschwunden. Es gab Sandwiches und Kaffee. Es schneite so stark, dass man fast glauben konnte, es wäre Abend. Ich hatte das Gefühl, umsonst gekommen zu sein. Im entscheidenden Augenblick, in dem ich als Katalysator hätte wirken können, als Schlüssel zu der seltsamen Krankheit des Killers von Laramie, hatte ich einen Rückzieher gemacht. Vielleicht hatten die Carltons mit ihrer Meinung über mich ja recht. Mit ihrer Meinung über Frauen. Es war ein niederschmetternder Gedanke.
    »Sie sind sehr still«, sagte La Loge plötzlich. »Das Erlebnis vorhin war ein bisschen viel für Sie, nicht wahr?«
    »Ich muss nachdenken.«
    Seine Augen verengten sich. »Möchten Sie nach Hause?«
    »Nein. Aber ich hatte keine Ahnung, dass ich so tief … hi neingezogen würde. Ich verstehe nicht, was das alles soll.«
    »Ich auch nicht. Wissen Sie, wir sind hier als Wächter, um jene armen Insassen zu kontrollieren, die mit der Welt draußen nicht zurechtkommen. Aber was J. K. betrifft … manchmal
glaube ich, er kontrolliert uns.« Ich schauderte. »Ich weiß, dass er das glaubt. Sie können doch hilfreich sein. Weil er Sie für jemand anderen hält.«
    »Vielleicht glauben Sie mir jetzt, dass Hope Martin meine Vorfahrin ist«, sagte ich.
    Er nickte nachdenklich.
    Ich nahm noch einen Schluck Kaffee und versuchte, intelligent auszusehen. Vielleicht sollte ich das Gespräch auf ein anderes Thema lenken. »Was war das für eine Musik, die Sie ihm vorgespielt haben? Und was sind das für Fotos?«
    »Das ist sein persönlicher Besitz. Die Musik stammt aus einem Liederkreis von Schubert, der ›Winterreise‹. Die Worte des ersten Liedes lauten: ›Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh’ ich wieder aus.‹ Wenn die posthypnotische Suggestion nicht funktioniert, kann man ihn mit der Musik meist in die richtige Stimmung bringen. Die Bilder hatte er schon immer.«
    »Er kann Deutsch?«
    »Wer weiß?« La Loge zuckte mit den Achseln. »Ich weiß nicht einmal, wie alt er eigentlich ist. Sein Körper passt sich perfekt der jeweils dominierenden Persönlichkeit an. Physisch betrachtet, wäre es möglich, dass er hundert Jahre alt ist. Die ersten beiden Bilder … sie könnten 1870, 1880 entstanden sein. Damals war er vielleicht

Weitere Kostenlose Bücher