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Wolfsruf

Titel: Wolfsruf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S.P. Somtow
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fünf oder sechs Jahre alt. Dann wäre er heute achtundachtzig, neunundachtzig.«
    »Winterreise«, sagte ich. »Das klingt so vertraut. Als hätte ich es schon irgendwo gehört.«
    »Natürlich haben Sie das«, bestätigte La Loge. »So heißt unsere Stadt. Winter Eyes. Noch einer Ihrer Zufälle, nehme ich an.«
    »Winterreise. Winter Eyes.« Ich wiederholte die Worte mehrmals.
    »Isst du das Sandwich?« Es war Preston. Er riss mich aus meinen Gedanken. Schon wieder der schleichende Indianer, dachte ich. Blöde starrte ich auf meinen Teller. Ich hatte nicht
einen Bissen zu mir genommen. Preston schnappte sich das Sandwich und blieb neben uns stehen. Er kaute geräuschvoll. Als er fertig war, sagte er zu mir: »Ich habe heute Abend frei. Lass uns in die Stadt gehen, Baby.« Bevor ich etwas einwenden konnte, zog er mich von meinem Stuhl.
    Ich begann, mich aus seinem Griff zu winden, als ich plötzlich merkte, dass ich das gar nicht wollte. Ich wollte mit ihm Zusammensein, ganz egal wo, nur weit weg von diesem Labyrinth des Irrsinns.
     
    Wir tobten im Schnee wie die Kinder. Ich klammerte mich an seine Jacke. Er fuhr von der Straße ab und schlitterte durch Matschkanäle im Schnee. Wir landeten in einer Schneewehe. Wir bewarfen uns mit Schneebällen. Wir lachten. Alles, um nicht an das Gespräch am Morgen denken zu müssen.
    Als es Abend wurde, fuhren wir nach Winter Eyes hinein. Der General Store hatte bereits geschlossen. Daneben war ein Imbiss. Wir waren die einzigen Gäste. Die Jukebox war 1959 zum letzten Mal neu bestückt worden. Ein Riesenposter von Jacqueline Kennedy hing an der Wand. Die Kellnerin bediente uns nur widerwillig. Ich fragte Preston leise, warum. »Du dumme weiße Schlampe«, flüsterte er aufgebracht. »Weil ich keiner von euch bin, ich bin eine Rothaut. Und ich habe kein Recht, mit anständigen Menschen zu trinken … und erspare mir diese Mitleidsmiene. Es stimmt.«
    Ich wollte gehen. Ich wurde nervös. Ich ließ mein Bier unangetastet. Aber ich traute mich nicht, ihn zum Gehen aufzufordern, weil ich einen neuen Ausbruch fürchtete.
    Endlich sagte er: »Gehen wir. Winter Eyes hat mehr zu bieten als diesen miesen Schuppen.«
    Draußen war es dunkel. »Wohin?«, fragte ich und strich mir den Schnee aus den Haaren.
    »Du wirst schon sehen.« Er saß bereits auf dem Motorrad und zog mich hoch.

    Wir bogen ab. Fuhren an ein paar Häusern vorbei. Der Ort endete abrupt an einer Kirchenruine und einem Friedhof. Grabsteine lugten aus dem Schnee, meist einfache Tafeln, vereinzelt ragten auch Cherubim oder Kreuze aus dem Weiß. Jetzt fiel kein Schnee mehr, und durch den dichten Nebel schien der fast volle Mond, von einer gespenstischen Korona umgeben. Preston wendete sein Motorrad, und wir fuhren durch eine Zaunlücke auf den Friedhof.
    »Was sollen wir hier?«, fragte ich.
    »Du wirst schon sehen.« Ich konnte ein paar verwitterte Namen auf den Grabsteinen lesen. Scott Harper, Joshua Levy, Mrs Prudence Carmichael. Die Todesdaten lagen alle zwischen 1880 und 1890; ein Grabstein trug das Datum 1901. Danach kam nichts mehr.
    Ich klammerte mich an die Jacke. Der Geruch nach Leder und Männerschweiß hüllte mich ein. Vor uns … fast als würden sie sich aus dem wogenden Nebel kondensieren … tauchten mehr Häuser auf, Häuser mit Ziergiebeln. »Wohin?«
    »Ins alte Winter Eyes. Verlassen. Geisterstadt. Niemand lebt dort.«
    »Niemand?«
    Wieder eine Zaunlücke. Er hielt an und lehnte das Motorrad gegen einen Baum. Es gab einen Bürgersteig; die Dächer der Holzhäuser knirschten unter der Last des Schnees. Eine Galerie überdachte den größten Teil des Gehsteigs. Irritiert folgte ich Preston; ich wünschte, es wäre Tag, damit ich die Geisterstadt in allen Details sehen könnte. Wir waren vor dem Schnee geschützt. Vor uns brannte in einem Eingang Licht. Ich rückte näher an Preston heran, nahm seine Hand. Er lachte leise. Es war eine Schwingtür, wie in einem Westernsaloon. Ich erkannte eine Bar, ein paar Stühle, einen Tisch - das Licht drang aus einem Hinterzimmer.
    Ich folgte ihm hinein. Im Hinterzimmer brannte eine Kerosinlampe. Drinnen stand ein Bett. Darüber hing das Porträt
eines Indianerhäuptlings, ein grelles Acrylfarben-Gemälde. »Mein Versteck«, offenbarte Preston. »Manchmal komme ich her, zum Träumen … ich träume, ich bin im Alten Westen, und die Bar ist voller betrunkener Goldgräber, die in die Black Hills wollen. Es ist mein Geheimnis. Niemand außer mir kennt das Versteck. Und

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