Wolfsruf
dem fernen Heulen. Sie wand sich aus dem Büffelfell und schlang sich eine Decke um.
»Zeke!«, sagte sie noch einmal. Vielleicht war er draußen und
lauschte dem Heulen. War es möglich, dass er sich den Wölfen verwandt fühlte? Keine Antwort. Doch dann hörte sie die Flöte.
Zuerst glaubte sie, sich den Klang nur einzubilden. Doch dann kam er wieder, weich und erotisch - der Klang der Siyõtanka, der tiefen Flöte der Liebeswerbung. »Du neckst mich«, sagte sie sanft. »Ja. Ich bin keine Jungfrau mehr, und du bist nicht mit Pferden und Skalps gekommen, die du meinem Vater geben möchtest, um mich zu kaufen. Ich bin alt und habe schon Kinder geboren. Ich habe zu viele Männer gekannt.« Sie lachte. Die Musik wurde lauter, ertränkte das Heulen der Wölfe, nahm ihr die Angst.
Sie trat aus dem Tipi. Der Mond stand am wolkenlosen Himmel. Woher kam die Musik? Von irgendwo außerhalb der Lichtung. Sie glaubte, eine schnelle Bewegung wahrzunehmen, aber als sie sich umdrehte, um ihn genauer zu sehen, verschmolz er im langen Schatten eines Tipi.
Sie folgte der Musik. Verließ die Lichtung. Trat in den Wald. Zu schnell - als wäre sie gar nicht mit ihren Füßen gegangen, sondern auf einem Traum geschwebt - erreichte sie den Bach, an dem die Frauen die Wäsche und sich selbst wuschen. Das Lied der Flöte war jetzt lauter, durchdrang die ruhige Luft. Im Schatten der Bäume - spielte dort ein alter Mann? Sie konnte ihn nicht genau erkennen, weil dort, wo er stand, das Blätterdach so dicht war, dass kein Mondlicht durchdrang.
Und dann hörte sie die Stimme ihres Ehemannes. Er beschimpfte den alten Mann. Sie sah ihn stehen, halb außerhalb des Mondlichts.
»Du hast hier nichts zu suchen«, zischte Zeke - Little Elk Woman verstand nicht, warum er in der Sprache der Washichun redete. »Du machst ihnen falsche Hoffnungen. Es wird keinen Erlöser geben, alter Mann, und du bist auch nicht Johannes der Täufer. Verschwinde dahin, wo du hergekommen bist.«
Die Musik brach ab. Wieder hörte sie das Heulen.
Blut! Der Duft erfüllte die Luft, machte ihn verrückt, stachelte ihn an, während er sich am Hang wälzte, gefangen in der Agonie der Transformation. Alle um ihn herum verwandelten sich! Da lag der Umhang des Grafen, achtlos beiseitegeworfen, während sich die Fingernägel zu festen Krallen verdickten. Chandraputras Turban wand sich lose durchs silberne Gras. Das Fell der Baronin wogte, als sie sich auf alle viere niederließ. Und er, Jonas Kay, brüllte, als seine Wolfsnatur durch seine menschliche Gestalt brach und seine Vorderpfoten das Seidenhemd und die Flanellhosen zerfetzten. Um sie herum standen die Diener, steif in ihren gestärkten Uniformen, mit passiver Miene, während ihre Herren die Anstrengungen der Metamorphose durchmachten.
Bei den angepflockten Pferden stand Natalia Petrowna. Sie war immer noch in menschlicher Gestalt. Sie hatte ihren Schal abgeworfen, der ihre vernarbte Wange verhüllte, aber ihr Gesicht war schmerzverzerrt. Heulend tobte sie, doch das Silber in ihrem Fleisch verzögerte die Transformation, machte sie zur Qual. Wie seltsam es zu beobachten war, wie ihr Körper sich wehrte, wie das Gift gegen ihre wahre Natur wirkte.
Kein Zorn bei Jonas’ Transformation. Keiner! Wie der Wind in seinen scharfen Ohren sang, wie würzig die Luft roch, wie ihn das Aroma der Angst und das Brausen des Blutes berauschte! Er jubilierte, als er auf die anderen zurannte, noch während das Haar aus seinem Rücken spross, prickelnd, und im Wind kitzelte. »Vater! Vater!«, rief er, doch sein Ruf war bereits ein Winseln.
Sie wandelten sich. Sie hetzten auf den Wald im Norden zu, wo sie menschliche Beute witterten. In den letzten Sekunden, bevor seine menschliche Natur ihn verließ, sah Jonas Kay Speranza in ihrem schwarzen Kleid im Mondlicht stehen. Der Graf, sein Vater, umkreiste sie, stupste sie, liebkoste sie mit seinen Pfoten. Sie umkrampfte eine Bibel mit ihren Händen und weinte. Das Mondlicht hüllte sie ein; ihr Gesicht leuchtete; ihre
Tränen schimmerten; er konnte das Tosen ihres Blutes und ihren rasenden Puls hören, schnell und laut wie das Trommeln eines Hasen.
Und jetzt sah ihn Speranza auch.
Ich hasse dich! Ich hasse dich! Sie hält den anderen immer noch gefangen - jenen Teil von mir, der mich aus dem Wald zerren will -, dieses winselnde Menschenkind. Er wird von ihr angezogen, er will sie begatten. Sie hält sogar meinen Vater gefangen - meinen Vater, den König der Tiere, den Herrn der
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