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Wolfsruf

Titel: Wolfsruf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S.P. Somtow
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Dunkelheit: Sogar jetzt, während sein Vater sie umkreiste, knurrend, heulend und klagend wie der Wind, ließ er sie nicht bluten, zerfleischte er sie nicht. Selbst jetzt, wo das ganze Rudel nach Menschenfleisch lechzte, zog er um sie herum einen Bannkreis, bewahrte er sie mit einer Barriere aus Pisse, Scheiße und Sperma vor jedem Schaden.
    Jonas hasste sie aus tiefstem Herzen, bis seine Tiernatur ihn ganz in Besitz nahm und sein Denkvermögen ausschaltete. Teddy Grumiaux hielt am Bach an und sog die Luft ein. Es roch nach gekochtem Hundefleisch. Das Lager musste ganz in der Nähe sein, nicht mehr dort, wo es gewesen war, als er fortlief, um seinen Vater zu suchen. Von der anderen Seite des Baches drang das zärtliche Geflüster einer Holzflöte aus dem Wald. Jemand umwarb seine Geliebte, dachte er. Eine gute Zeit dafür. Der Vollmond ließ die Blätter in einem schwachen Feuer leuchten. Wenn sie nur wüssten, was ich weiß.
    Der Klang wurde lauter. Durchtrennte die Nachtstille. Teddy lief ein Schauer über den Rücken, und er drehte sich zu dem Pferd um, das er an eine Kiefer gebunden hatte. Es verhielt sich ungewöhnlich ruhig. Es hatte Angst. Wenn Teddy überhaupt etwas von den Indianern gelernt hatte, dann, wie Angst roch. Aber das Aroma des gekochten Hundes war stärker, und Teddy war hungrig. In der Ferne ertönte Wolfsgeheul. Aber das Rudel war noch weit entfernt. Die Angst strömte von dem Pferd aus, das seine Herren kannte und wusste, dass sie bald kommen würden.

    Plötzlich sah er den Flötenspieler. Einen winzigen Augenblick lang. Als sich der Nebel teilte. Ein Geist? Er erschrak. Er trat zurück. Die Musik erstarb, und er hörte das Knacken toter Zweige. Durch den Nebel zeichneten sich die Umrisse von Tipis ab.
    »Du bist kein Geist«, sagte Teddy leise. Ein alter Mann stand am Ufer. Ein alter Mann tanzte. Halb nackt in der Kälte.
    Teddy hatte ihn schon einmal gesehen. Es war der verrückte Häuptling, der immer mit dem Zug fuhr, hin und her, von Cheyenne nach Omaha nach Cheyenne. Er hatte schon immer im Zug gesessen, sich vor und zurück gewiegt und vor sich hin gesungen, aber Teddy hatte sich nie Gedanken über ihn gemacht; nur einmal, als er und der Wolfsjunge sich in einer geheimen Sprache zu unterhalten schienen.
    Und dann hörte er einen anderen Mann zu dem Indianer sprechen, und damit stand fest, dass es kein Geist war.
    Er verstand nicht alles, aber der Mann sprach englisch. Hier im Sioux-Territorium klangen die Worte fremd. »Kein Messias … wenn du weiter den Menschen solche Lügen erzählst und ihnen falsche Hoffnungen machst, wirst du sie noch ins Verderben führen. Ich hab mal einen Indianer wie dich über den Geistertanz im Süden reden hören … dass es einen Messias für die Weißen gibt und einen für die Roten … und dass sie den Büffel wieder auf die Prärie wünschen und den weißen Mann zurück ins Meer träumen können, wenn sie nur fest daran glauben und den Geistertanz mit ganzem Herzen tanzen. Du bist auch bloß so ein verrückter alter Kerl, von denen sich die Indianer so gern beeindrucken lassen. Ich will nich’, dass meine Frau dir glaubt.«
    Der alte Mann bückte sich, hob seine Flöte wieder auf, setzte sie in der gleichen Bewegung wieder an seine Lippen und spielte die Melodie weiter, ohne seinen Tanz auch nur für einen Augenblick zu unterbrechen.
    »Du kannst tanzen, solange du willst, Alter, aber du kannst die Uhr nicht zurückdrehen.«

    Was hatte das zu bedeuten? Er wollte gerade aus dem Schatten treten und sich dem Alten zu erkennen geben. Hatte er nicht den Shungmanitu olowan gesungen, als er Johnny Kindred zum ersten Mal erblickte? Teddy wusste, dass die Sioux einen sechsten Sinn für Gefahren besaßen. Ahnte er nicht, was geschehen würde? Nein, sein Tanz war voller Freude.
    Teddy sah, dass der weiße Mann jetzt fortging. Es war ihm nicht gelungen, den Alten zu überzeugen, wovon auch immer. Er sah wütend aus. Ich warte, bis er außer Sichtweite ist, dachte Teddy. Dann erzähle ich dem alten Mann alles. Er wird wissen, wie wir das Dorf am besten warnen.
    Wieder hörte Teddy in der Ferne ein Heulen. Der weiße Mann blieb stehen, lauschte. Teddy zog sich zurück, versuchte, im Schatten unterzutauchen. Dann entdeckte er die Frau.
    Sie hatte im Nebel hinter den beiden Männern gestanden. Jetzt verzogen sich die Schwaden. Ihr Gesicht war gefleckt: Mondlicht und Zweige. Teddy hatte sie lange nicht mehr gesehen, aber er erkannte seine Mutter sofort, und er konnte

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