Wolfsruf
die ich am liebsten vergessen möchte.«
»Menschen also.«
Sie nickte. »Deshalb sind sie hierhergekommen … um sich in der Wildnis niederzulassen und ihren Hunger mit den armen Wilden zu stillen. Und ich bin mitgekommen, weil ich hoffte, dass Johnny irgendwie … dass ich verhindern könnte … dass ich …«
»Die armen Wilden!«, machte Teddy sie nach. Aber hinter seiner Ironie verbarg sich Trauer, erkannte Speranza. »Wussten Sie, Miss Speranza, dass wir genau auf das Indianerreservat zufahren? Ich schätze, wir haben das Dorf bei Mondaufgang erreicht.«
»Das Dorf …«
»Das Dorf, aus dem ich fortgelaufen bin. Das Dorf meiner Mutter. Ich bin meinen Vater suchen gegangen, aber ich glaub’, ich werd’ ihn nich’ mehr finden.«
»Deine Mutter ist in Gefahr!«, sagte Speranza. Die Indianer, die ihr bisher zu Gesicht gekommen waren, hatten eigentlich nur pittoresk gewirkt und ihr immer den Eindruck vermittelt, dass sie nur dazu da waren, um der Reise eine exotische Note zu verleihen. Natürlich war der Junge ein Halbindianer - wie
dumm von ihr, nicht daran zu denken, dass ihn Bande mit der Welt dieser Wilden verknüpften, die kaum weniger stark waren als jene zu der Gemeinschaft der Weißen. »Wir müssen sie irgendwie warnen«, sagte Speranza. »Du musst zu ihr … du, ein armes Kind, allein in der Wildnis!«
Er lachte. Ein Stein auf der Straße rüttelte den Wagen durch, und sie berührten einander. Sie spürte seine Verachtung daran, wie er ihr seine Hand entzog. »Ein armes Kind«, äffte er sie wieder nach. Dann flüsterte er: »Wenn Sie mir helfen, könnt’ ich mir ein Pferd besorgen. Wir wären rechtzeitig im Dorf, um sie zu warnen …«
»Ich dir helfen! Ich kann kaum im Damensattel reiten. Ich weiß nichts über die Wildnis.«
»Ich will ja gar nich’, dass Sie mit mir kommen, Madam. Ich brauch’ bloß jemand, der den Grafen ablenkt. Damit er nich’ mitkriegt, wie ich eins von den Pferden stehl’.«
»Aber ich muss mich um Johnny kümmern …«
Im gleichen Augenblick hörte sie den Jungen heulen. Er kroch an ihr vorbei, die Arme nur kurz über dem Boden, und sie dachte: Es ist zu spät, er gehört ihnen. Er ist mir entschlüpft; die Wildnis hat auch ihn wild gemacht; ich kann ihn nicht retten. Ich kann nicht einmal mich selbst retten; die Bestie hat mich zu ihrem Spielzeug gemacht.
Speranza weinte. Sie hatte das Gefühl, als hätte sie alles verloren, was sie besessen hatte, als sie in der Victoria Station auf Cornelius Quaid gewartet hatte: ihre Selbstsicherheit, ihren Glauben an das Gute im Menschen, ihre Kraft. Und während sie weinte, sah sie Johnny neben sich stehen. Er lachte grob und pinkelte über den Wagenrand.
Teddy unternahm nichts, um sie zu trösten, sondern starrte schweigend und tabakkauend in die Landschaft. Schließlich legte sie ihre Hand auf seine Schulter und flüsterte leise: »Sag mir, was ich tun soll.«
Er sprang vom Wagen und lief nebenher. Der Schlamm quetschte sich zwischen seine Zehen. Jonas jubilierte. Jedes Mal, wenn ich mich verwandle, dachte er, werde ich mehr ich selbst. Er schnupperte und witterte die Fährte der anderen Rudelmitglieder. Auch der Duft von Angst lag in der Luft, vermischt mit vertrauten Aromen: Er ahnte, dass sich Beutetiere unter ihnen befanden und dass sie schon jetzt die kommende Nacht fürchteten.
Der Zug hielt an. Es war Zeit für die morgendliche Rast: Champagner, Karten, Tabak, Konversation. Er sah, wie die Baronin mit Pater Alexandras pokerte; der indische Astrologe maß den Sonnenstand mit einem Miniaturastrolabium. Sein Vater lagerte bereits auf einer Chaiselongue, die die Diener von einem Wagen abgeladen hatten. In dem Sessel neben ihm ruhte Natalia Petrowna, die ehemalige Geliebte seines Vaters. Noch hatte er sie nicht ausdrücklich verstoßen; so blickte sie mit stolzer Miene. Ihr Gesicht war zur Hälfte unter einer Hermelinstola verborgen.
Zwei Pferde wurden, um sie vor der Morgensonne zu schützen, an einen Baum gebunden, der auf einem grasbewachsenen Nordhang stand. Dahinter folgten Hügel und in der Ferne dunklere Silhouetten, vielleicht ein Gebirge.
Dank seiner geschärften Sinne konnte er die Diener flüstern hören, als er sich seinem Vater näherte: »Da kommt er, der Welpe des Grafen!« … »Man sagt, er ist der Gefährlichste von allen.« … »Dabei sieht er so harmlos aus. Und doch …«
Ja! Er witterte ihre Angst im Wind, sauer mit einem süßlichen Nachgeschmack, ein bisschen - er grinste, als ihm der
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