Wolfsruf
widersprach Speranza.
»Sollen wir den Kampf gleich austragen?« Natalia wandte sich an die anderen. »Jetzt, solange Sie noch eine faire Chance haben? Wenn wir bis Mondaufgang warten, dann werde ich sie einfach in Fetzen reißen!«
Sie machte einen Satz. Schleuderte Speranza zu Boden. Drückte ihr Knie in ihre Magengrube, bis das Fischbein knackste und Speranza vor Schmerzen kaum noch Luft bekam. Auf Natalias Lippen stand Schaum. Ihr Speichel tropfte auf Speranzas Augen, ihren Mund - widerwärtig stinkender Sabber. Ihre Fingernägel bohrten sich in Speranzas Handgelenke, als wären sie bereits zu Klauen transformiert. Der Gestank raubte Speranza den Atem, obwohl sie den Geruch gut kannte, seit der Graf sie nachts besuchte.
»Lass sie in Ruhe!«, schrie Johnny auf. Er begann an Natalias Rock, ihrer Stola zu zerren - er riss sie ihr vom Hals, und Speranza entdeckte das Fell und das Narbengewebe, das darunter verborgen gewesen war - Natalia kreischte, während der Kleine sie mit seinen Fäusten bearbeitete, aber als Speranza ihn beobachtete, wurden die Augen des Jungen zu schmalen Schlitzen, gelb, als würde er Natalias Identität in sich aufnehmen, und dann war er plötzlich auf allen vieren und stürzte sich auf Speranza, und sie glaubte, Fänge in seinem Mund zu sehen, glänzende, stinkende Reißzähne. Jetzt hörte sie das Brüllen der
anderen Tiere, und sie sah, wie sich der Graf von seiner Chaiselongue erhob und auf sie zutrabte - mit bernsteingelben Augen.
Und Teddy, der zu den Pferden rannte.
Sie schloss die Augen, kniff sie zu, aber vor ihrem inneren Auge waren sie bereits Wölfe, mit blutverschmierten Lefzen, und ihr Heulen tönte durch die kalte Nachtluft.
Als sie die Augen wieder öffnete, standen alle mit dem Rücken zu ihr am Rand des Hanges, und als sie sich mühsam erhob, konnte sie in der Ferne ein Pferd und einen Reiter erkennen, die nach Norden jagten. Er war nur noch ein Fleck im windgepeitschten Grasmeer.
Sie sah, wie der griechische Priester ein Gewehr auf seine Schulter legte und sorgfältig zielte.
Ein schrilles Lachen von der Baronin, seiner Spielpartnerin: »Wie ich sehe, haben Sie bei diesem Buffalo Bill Unterricht genommen«, krakeelte sie.
»Lasst ihn«, befahl der Graf ruhig. »Wir dürfen nicht vergessen, meine Freunde, dass wir uns bis zum Anbruch der Nacht immer noch zivilisiert geben müssen.«
»Was ist mit der Gouvernante?«, fragte jemand. Es klang nach dem indischen Astrologen. Sie schloss die Augen, weil sie erwartete, dass sie sich nun wieder auf sie stürzen würden.
Dann hörte sie die Stimme des Grafen: »Sie darf nicht verletzt werden. Ich möchte, dass sie eine der unseren wird. Aber sie soll es aus freiem Willen werden.«
Und Natalias ironischen Kommentar: »Das hast du auch zu mir gesagt, Hartmut, vor gar nicht so vielen Jahren. Merde! Seitdem weiß ich, was ich von deinem sogenannten ›freien Willen‹ zu halten habe!«
Sie öffnete die Augen. Natalia starrte sie mit blankem Hass an. Die Russin spuckte vor Speranzas Füßen aus und wandte sich dann wieder dem Grafen zu.
Als sie zu ihrem Wagen zurückging, hörte Speranza eine Kinderstimme:
»Speranza, Speranza.« Und sie spürte eine kleine Hand in ihrer. Sie ergriff sie und wusste, dass sie Johnnys einzige Hoffnung war. »Halte meine Hand«, sagte sie. »Ich werde dich aus dem Wald führen.«
»Wenn es einen Weg hinaus gibt«, antwortete der Junge traurig.
12
Das Lakota-Gebiet
Am selben Abend
Es war Vollmond. Ein Streifen Mondlicht fiel durch die Öffnung des Tipis auf Little Elk Woman und ihren Ehemann. Und aus der Ferne hörte man ein ganz neues Heulen - kalt, zornig, fast wie das Kreischen des Eisenrosses, das über die Ebene der toten Büffel donnerte.
Little Elk Woman dachte nach. Wenn die Wölfe heulen, dann spürt man ihre Freude, eins zu sein mit der Nacht. Man hört ihren Hunger, während man tiefer unter das Büffelfell schlüpft und sich fürchtet. Aber diese Wölfe heulten nicht vor Hunger. Ihr Heulen klang eher nach Lust - nicht nach der Lust der Liebenden, sondern der kalten Lust des Kriegers, der seinen gefallenen Gegner entehrt, indem er ihn von hinten besteigt. Diese Wölfe konnten noch nicht lange in diesem Land leben. Sie waren irgendwie wie die Weißen - sie waren von der Natur abgeschnitten, sie kannten sich nicht selbst.
Das Feuer im Tipi war erloschen. Sie setzte sich auf, wollte ihren Ehemann wecken. Aber er war nicht da.
»Zeke?«, flüsterte sie. Keine Antwort außer
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