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Wolfsruf

Titel: Wolfsruf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S.P. Somtow
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ganz anderen Grund nach Lead gekommen, und ihr kam dieser Trubel sehr ungelegen; aber es war schwierig, aus Winter Eyes herauszukommen, und sie musste die Gelegenheit nutzen, die sich ihr bot. Bei Vollmond, wenn die Wölfe in Aufruhr waren, war es am einfachsten: Sie war unter dem Vorwand, Kleider kaufen zu wollen, in die Stadt gefahren; und man hatte ihr nur einen alten Diener als Eskorte mitgegeben. Der Diener war eben jetzt im Kaufladen und besorgte neue Vorräte - denn Winter Eyes hatte noch nicht die von Dr. Szymanowski anvisierte Autarkie erreicht -, und so hatte sie sich heimlich aus dem Imperial Hotel stehlen können. Die Hinrichtung, das war ihr jetzt klar, gab eine ausgezeichnete Ausrede ab; denn nicht einmal der Graf würde bei dem Gedanken misstrauisch werden, dass eine Frau gerne eine andere hängen sehen wollte.
    Das Fenster des Wartezimmers im ersten Stock blickte auf die Galgen. Sie musste immer wieder hinausschauen, obwohl sie verzweifelt versuchte, sich abzulenken, indem sie in einem Montgomery-Ward-Katalog blätterte. Sie wartete schon mehrere Stunden, und Dr. Josiah Swanson war noch nicht aufgetaucht; er war mit einer sehr diffizilen Operation beschäftigt - eine Kugel aus dem Gesäß eines Pistoleros zu lösen.
    Endlich bat er sie herein; sie war sehr erleichtert, dass von dem Fenster des Behandlungszimmers aus der Hinrichtungsplatz nicht zu sehen war. Aber ihr Mut sank, als er schweigend vor ihr stand und seinen Schnurrbart zwirbelte. Der Pistolero ächzte und fluchte noch immer; er lag auf einem Tisch hinter einem chinesischen Wandschirm.
    »Könnten wir uns irgendwo ungestört unterhalten?«, fragte sie. »Wie Sie wissen, Dr. Swanson, handelt es sich um eine etwas delikate Angelegenheit …«
    »Oh, der hört bestimmt nichts, Miss Martin«, versicherte er ihr. Er nannte sie bei ihrem neuen Namen, den sie in den vergangenen Jahren in der Neuen Welt angenommen hatte. »Ich
habe ihm so viel Whisky eingeflößt, dass er sich wahrscheinlich kaum noch daran erinnert, wie er zu der Narbe an seinem Allerwertesten gekommen ist.«
    »Aber ich komme wegen der …«
    Lärm von der Straße, ein allgemeines Gemurmel - hungrig, hungrig, wie ein Rudel Wölfe, wie vertraut war ihr dieser Klang, wie genau wusste sie, dass die Chinesin unschuldig war, während sie, Speranza, sich den fleischlichen Lüsten einer Bestie hingab - sogar jetzt noch Lust dabei verspürte, wo sie sich selbst der Schamlosigkeit bezichtigte.
    »Lassen Sie uns nicht darüber sprechen, was ich tun werde, Miss Martin«, fiel ihr der Doktor ins Wort. »Es ist schlimm genug, dass eine schöne Frau wie Sie ihr ungeborenes Kind aus ihrem eigenen Leib verstößt. Wenn es nicht wegen des …«
    Speranza zog ein paar Münzen aus ihrem Mieder und zählte sie nacheinander auf den Schreibtisch des Arztes. Jede trug einen Adler - eine, zwei, drei, ein Dutzend. Doppelt so viele wie beim letzten Mal. Diskretion hatte ihren Preis.
    »Madam, schließlich sind Sie keine Hu-«, Swanson konnte sich gerade noch bremsen. »Ich meine, dreimal …«
    »Sir, ich habe meine Gründe. Begnügen Sie sich damit, dass ich Sie für diese Operation bezahle und dass ich mir immer noch Ihr Schweigen leisten kann. Ich kann und werde weder dieses noch ein anderes Kind austragen. Alle Spekulationen sind müßig, Doktor, und werden nichts daran ändern.« Sie klang mutiger, als sie sich fühlte. Sie wusste, dass sie nicht länger warten konnte, sonst würde sie Liebe für jenes Wesen empfinden, das in ihr wuchs, und das durfte niemals geschehen. Dann würde sie - so wie der Graf es beabsichtigte - zur Madonna der Wölfe werden, und das bedeutete, nie wieder frei zu sein, auch die letzte Hoffnung aufgeben zu müssen, Johnny Kindred wiederzufinden.
    Es krachte. Der Revolverheld war vom Tisch gefallen. »Verdammter Mist!«, fluchte Dr. Swanson. »Am besten kümmere
ich mich im Wartezimmer um ihr kleines Problem, Miss Martin. Ich schließe die Tür ab, damit uns keiner stört, bevor ich fertig bin.«
    »Ist ein Päckchen für mich gekommen?«, fragte Speranza, denn Dr. Swanson hatte sich bereit erklärt, als toter Briefkasten für diese rätselhafte Miss Martin zu agieren. Seitdem führte sie ihre Korrespondenz mit Herrn Freud über seine Adresse.
    »Es ist tatsächlich etwas da«, sagte er. »Und da es aufgeplatzt ist, können wir mit dem Koka-Pulver auch den Schmerz während der Operation betäuben …«
     
    Er kam mit zwei Dollar in der Tasche nach Lead. Ein Dollar in

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