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Wolfsruf

Titel: Wolfsruf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S.P. Somtow
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ist, als der alte Indianer ihn auf seinem Rücken nach Norden getragen hat.«
    »Der Wolfsjunge?«
    »Shungmanitu Hokshila«, sagte Jake. »Und ich bin der Einzige, der ihn verstehen tut, wenn er redet, und ich sage die englischen Worte für ihn. Er ist der Jüngste von uns allen. Er spricht nicht keine Weißensprache. Deshalb habe ich mich um ihn gekümmert, und wenn er was Englisches sagen musste, habe ich für ihn geredet.«
    »Hast du … oft für ihn … gesprochen?«
    »Nein, Madam. Nur als ihn der Schlangenölmann gefangen hat …«
    So ging es in den nächsten Tagen weiter. Die neuen Persönlichkeiten erzählten ihre Geschichte weitschweifig und umständlich; mehr als alles andere zeigte mir das, wie eng und linear ich dachte. Der Wolfsjunge sah die Welt als Folge von konzentrischen Kreisen, nicht als Linie von der Vergangenheit über die Gegenwart in eine ungewisse Zukunft. Zukunft und Vergangenheit waren gleichermaßen gewiss und ungewiss, gleichermaßen rätselhaft. Mein Erzähler war ganz anders als Johnny Kindred; er war kein bisschen ängstlich oder unsicher. Und doch erklärte er mir durch seinen Übersetzer, dass
er seit mehr als achtzig Jahren nicht mehr gesprochen hatte; dass ich ihn als Erste wieder aus dem Wald in J. K.s Geist gerufen hätte.
    »Warum?«, fragte ich ihn. Er war bei Weitem die reifste, ernsthafteste Persönlichkeit. Wenn man ihn nur gefördert hätte, das fühlte ich, hätte er die anderen Charaktere in sich aufnehmen, zum Zentrum des Heilprozesses werden können. Er war weise. Warum musste er verschwinden?
    Jake Killingsworth antwortete an seiner Stelle: »Das war der Schlangenölmann, Madam. Er wollte den Wolfsjungen zerstören. Und er hätte beinahe seine Seele gestohlen.«
    »Der Schlangenölmann?«
    »Er ist drei Jahre lang nicht aufgetaucht. Und wir haben schon angefangen gehabt zusammenzuwachsen. Aber eins hat uns gefehlt …«
    »Was?« Ich sah, dass La Loge aufblickte.
    »Sie, Speranza«, antwortete Jake leise. »Und als wir Sie wiedergesehen haben, da hat uns schon der Schlangenölmann geschnappt gehabt.«
     
    Morgen holt Preston mich ab. Wir fahren zusammen ins Reservat, und ich werde den Sonnentanz sehen.
    Ich bin sicher, dass ich enttäuscht sein werde. Ich habe einen Haufen anthropologischer Artikel über diesen Sonnenschwur gelesen. Ich weiß, dass sie ihren Brustkorb durchbohren und sich mit langen Rohlederriemen an einen heiligen Baum fesseln; sie tanzen, starren in die Sonne, blasen auf kleinen Flöten und wedeln mit Salbeisträußen - bis die Fesseln aus dem Fleisch reißen. Diese Artikel strotzen vor Beschreibungen - Augenzeugen - und Reiseberichten, manchmal kommen auch die Indianer selbst zu Wort. Aber ich habe gehört, dass sich das Ritual verändert hat. Sie geißeln ihr Fleisch längst nicht mehr so sehr - wie auch, wenn sie am nächsten Morgen ausgeruht am Arbeitsplatz erscheinen müssen? Die Riemen reißen sofort,
und fertig ist der Schwur. Das hat mir jedenfalls Dr. La Loge eines Morgens beim Frühstück erklärt. Das Büro für indianische Angelegenheiten hatte das Ritual verboten, doch jetzt wird es anscheinend wieder durchgeführt. Aber vielleicht ist es nicht mehr dasselbe.
    Deshalb fürchte ich, dass es nicht so sein wird wie in den Berichten. Trotzdem weiß ich, dass er mich dabeihaben will.
    Ich muss sowieso mit ihm reden. Ich möchte wissen, ob er mir mehr über die Chinesin erzählen kann - seine Schwiegergroßmutter? Oder seine Schwiegerurgroßmutter? Ich sehe diese Frau - eine zierliche Gestalt mit hohen Wangenknochen - immer wieder am Galgen hängen, während die Menge johlt und sich ausmalt, wie sie und der Wolf -
    Und doch, ich habe mich dabei ertappt, wie ich mir auch genau das vorgestellt habe.
    Und ich wache nachts auf, und dieser Duft hängt mir immer noch nach, vielleicht aus einem Traum, dieser strenge Moschusgeruch, und ich bin so aufgeregt, dass ich nicht wieder einschlafen kann, und - ich gestehe es -, ich berühre mich, ich streichle mein feuchtes Geschlecht, stelle mir kratzendes, schlammverkrustetes Fell auf meiner weichen Haut vor, und - ich kann es nicht leugnen -, es erregt mich.

2
    1883: Lead, Dakota-Territorium
    Vollmond
     
    Die Chinesin sollte mittags gehängt werden, aber die ganze Nacht über war zu hören, wie sie den Galgen zusammenzimmerten. Im Morgengrauen kamen die ersten Schaulustigen, flüsterten miteinander, und aus den Saloons plärrte Musik.
    Speranza wollte die Hinrichtung nicht sehen; sie war aus
einem

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