Wolfsruf
Paar: der Major stocksteif mit polierten Knöpfen und gebügelter Uniform, die ekelhafte Wunde unter einem Hut verborgen, fleischgewordene Korrektheit; Claggart grellbunt herausgeputzt, mit einer pfauenblauen Seidenweste am Leib, einem Zwanzig-Dollar-Stetson auf dem Kopf und einer Zigarre im Mund.
»Sheriff?«, fragte der Major den schlaksigen Kerl mit dem Stern. Claggart blieb lieber unauffällig im Hintergrund, obwohl das bei seinem Aufzug kaum möglich war. Der Major stellte Claggart nicht vor, und der Sheriff schien sich nicht für ihn zu interessieren. »Ich möchte Ihre Hinrichtung nicht aufschieben, aber es gibt noch ein paar offene Fragen.«
»Gern, Major, aber die da draußen werden schon ziemlich ungeduldig. Irgendwann stürmen sie das Gefängnis und hängen sie selbst.«
Erst da bemerkte Claggart die Chinesin. Das also war Grumiaux’ Frau! Ein schmächtiges kleines Ding in einem fadenscheinigen Baumwollkleid, mit gesenktem Blick. Sie war in Handschellen. Sie wehrte sich nicht. Claggart fragte sich, ob ihre Bewacher sie vergewaltigt hatten und ob das bei einem so klapperdürren Wesen überhaupt Spaß machte. Er mochte lieber beleibte Frauen. Und Kampfgeist. Sie mussten sich wehren. Sonst machte es keinen Spaß, ihnen wehzutun.
»Vielleicht könnten Sie uns einen Augenblick allein lassen, Sheriff«, bat der Major. »Es geht um militärische Geheimnisse. Ohne Ihnen nahetreten zu wollen.«
Der Sheriff schien irritiert, marschierte aber gehorsam hinaus. Claggart konnte hören, wie er versuchte, die Menschen vor der Gefängnistür zu beruhigen. Jetzt waren sie nur noch zu dritt im Gefängnis.
»Ich interessiere mich nicht für die Chinesin«, sagte der Major zu Claggart, als wäre ihm die Angelegenheit ein bisschen peinlich, »aber ich habe einen Auftrag zu erfüllen.«
Der Major zückte einen Silberdollar und hielt ihn vor die Chinesin hin. Sie zuckte nicht einmal mit der Wimper.
»Sie gehört nicht zur Gruppe des Grafen«, bekundete Sanderson. »Sie reagiert nicht auf das Silber, sehen Sie? Damit geht mich die Sache nichts mehr an. Ich weiß nicht, warum diese Leute ihr vorwerfen, mit Tieren zu verkehren. Aber ein Sündenbock ist ein Sündenbock, und es ist nur gut, dass sie sie von der Wahrheit ablenkt.«
»Was hätten Sie getan, wenn sie ein Werwolf gewesen wäre?«
»Ich bin dem Grafen verpflichtet, Claggart. Ich hätte versucht, sie zu retten, auch wenn mir der bloße Gedanke daran zuwider ist.« Claggart schwieg, aber er dachte: Was für ein Idiot, was für ein Sklave er doch ist, da helfen ihm alle seine feinen Manieren nichts. Dieser ausländische Graf hat den Major um den kleinen Finger gewickelt. Wie hat er das bloß angestellt? Claggart zweifelte nicht daran, dass die Russin etwas damit zu tun hatte.
Der Major fragte: »Entspricht die Anklage der Wahrheit?«
Sie antwortete ihm nicht.
»Sie gehört Ihnen, Claggart«, meinte der Major gelangweilt.
Claggart trat vor sie hin, ganz nahe, damit ihn der Major nicht verstehen konnte. Sie roch säuerlich, und sie war vollkommen zerkratzt, aber er bezweifelte, dass ein Wolf das angestellt hatte. Nein. Die Männer des Sheriffs hatten sich über sie hergemacht. Er packte sie an den Schultern, schaute ihr in die Augen und sagte leise: »Ich suche den Wolfsjungen.«
Sie schüttelte den Kopf.
»Ich will diesen Jungen, verstehst du? Er wird mich reich machen. Manche sagen, die Indianer haben ihn. Andere sagen,
er ist irgendwo in den Hügeln. Manche sagen, du wärst nicht mit einem Wolf, sondern einem Wolfsmenschen zusammengewesen. Die meisten Leute glauben nicht an Wolfsmenschen, aber ich habe zu viel gesehen. Ich kenne sie. Du kannst mir alles erzählen. Es macht sowieso keinen Unterschied; du wirst hängen.« Er lächelte grausam.
»Ich nicht kennen Jungen. Ich nichts wissen.« Eine gleichgültige Stimme. Die Stimme einer bereits Verstorbenen.
Wütend schlug Claggart ihr ins Gesicht. Die dumme Pute zuckte nicht einmal.
»Keine Privatvergnügungen, Mr Claggart«, wies ihn der Major zurecht und lachte donnernd. »Sie dürfen der Menge nicht ihren Spaß nehmen.« Leck mich doch, dachte Claggart. Der Major hatte seine Sache erledigt - bewiesen, dass der Graf die Chinesin nicht zu retten brauchte, dass sie nicht nach Winter Eyes gehörte. Aber Claggart hatte bloß seine Zeit vergeudet.
»Johnny!«, sagte sie unwillkürlich, und sie roch Blut im Wald, in der feuchten Luft -
»Kommen Sie, Miss Speranza«, sagte Teddy. »Sie müssen an die
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