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Wolfsruf

Titel: Wolfsruf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S.P. Somtow
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die tollpatschigen, ungehobelten Westler und die weltgewandten Oststaatler, in dem folgende Zeilen standen:
     
    Natürlich müssen wir auch den höchst verwunderlichen Casus jener Chinesin hinzuziehen, welche in Lead aufgrund der wohl reichlich anachronistischen Anklage gehenkt wurde, unnatürlichen Verkehr mit Wölfen gehabt zu haben - diese Frau, die offenbar die Gattin eines ortsansässigen Eisenbahn-Controlleurs war, hatte nichts Verwerflicheres getan, als einen Angriff zu überleben, bei welchem ein Rudel marodierender Wölfe eine Gesellschaft angriff, verstümmelte und tötete …
     
    Der Rest des Artikels war irrelevant - der Autor mokierte sich über den Cowboyjargon und das sündige, lasterhafte Benehmen der Frauen im Westen -, aber ich spürte mein Herz schneller schlagen. Grumiaux’ Frau - die Chinesin -, dies musste die Frau aus Johnnys Erzählung sein. Gab es noch mehr Beweise - den Namen der Frau vielleicht oder Gerichtsakten?
    Ich fuhr nach Lead, um das herauszufinden.
    Lead! Als Erstes lernt man, dass es »Lied« ausgesprochen
wird, nicht »Ledd«. Daran erkennt man die Touristen - und dafür wollte ich keinesfalls gehalten werden. Touristen, Touristen, mit ihren Polyesteranzügen und schrillen Sommerkleidern, mit ihren schwitzenden Kindern unter riesigen Cowboyhüten und original Hongkong-Indianerschmuck, die auf der Straße Cowboy und Indianer spielten.
    Touristen, Touristen - die Schlange standen, um eine echte Goldmine zu besichtigen. Ein Indianerjunge stand auf dem Bürgersteig und ließ sich für fünfundzwanzig Cents fotografieren. Ich machte ein Bild und fühlte mich wie die Große Weiße Mutter. Es war zu spät, die Bücherei und das Rathaus waren bereits geschlossen. Die Sonne ging unter. Es wird hier auch im Sommer nach Einbruch der Dunkelheit kalt, weil die Stadt so hoch liegt und der Wind nie nachlässt. Ich entdeckte einen Friedhof, ganz ähnlich jenem, den J. K. mir in Deadwood beschrieben hatte. Ich fragte mich, ob er die beiden Städte durcheinanderbrachte. In der Nähe stand eine windschiefe Kirche - unverschlossen und kahl. Ich ging hinein, kehrte gleich wieder um - plötzlich war mir eigenartig zumute. Vielleicht, weil wie von Zauberhand alle Touristen verschwunden waren - sie waren wohl alle auf irgendwelchen Rundfahrten -, und niemand mehr zu sehen war. Ich schlenderte zwischen den Gräbern herum - ich wusste nicht, wonach ich eigentlich suchte -, aber ich fand etwas:
    - Rumiaux Chines -
1883
    Es war eine fast verrottete Holztafel, aber davor lagen frische Wiesenblumen. Bestimmt nicht älter als ein paar Stunden. Ich zitterte. Wenn es das war, was ich glaubte -
    Ein Schatten. Ich drehte mich um und -
    »Himmel - ich such’ nach einer Vision, und was find’ ich? Dich!«

    Es war Preston. Er packte mich an beiden Händen, fest. Und sagte: »Carrie, du folgst meiner Familie wie eine Wölfin einer frischen Fährte.«
    »Was zum … wie hast du …«
    Er lächelte. Der Wind zauste sein langes Haar, schlug es über seine schmalen Lippen, seine harten Augen. Seine Wangen waren hohl, er hatte Gewicht verloren. Vielleicht fastete er. Ich wusste, dass das zu einer Traumsuche dazugehörte. »Preston«, rechtfertigte ich mich, »ich versuche nicht …«
    Er ließ nicht locker. »Sie haben sie gehenkt. Weil sie mit einem Wolf gefickt haben soll! Natürlich weißt du nichts darüber.« Er zog mich an sich. Sein Atem war faulig, Uringeruch umgab ihn, und ich wusste, in was er sich verwandeln würde. »Du weißt, warum ich den Sonnentanz machen muss, nicht wahr? Ich will wissen, wie weit ich noch Mensch bin. Ich bin immer noch auf der Suche nach meiner Vision.«
    »Aber ich dachte, dazu musst du in die Wildnis.«
    »Dies ist die Wildnis … die Wildnis der Washichun … wusstest du das nicht?« Und deutete mit einer Handbewegung über die Grabsteine. Und über die Stadt dahinter.
    »Sie war nicht mit dir verwandt«, sagte ich. »Warum die Blumen?«
    »Mein Großvater sah sie sterben. Gelb, rot, schwarz, braun, dein Volk hat uns alle unterdrückt.«
    »Du vergisst«, widersprach ich wütend, »dass du auch weißes Blut in deinen Adern hast, wenn J. K.s Geschichte stimmt.«
    »Erinnere mich nicht dran!«, fauchte er und begann fortzulaufen. Dann blieb er am Friedhofstor stehen und drehte sich um. »Ich seh’ dich nächste Woche im Reservat. Zum Brustwarzenpieksen.«
    Ich schaute ihm nach, bis er unten am Hügel verschwunden war. Ich zitterte. Die Brise spielte mit den Blumen unter dem

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