Wolfsruf
Grabmal. Sie glitten davon. Ich sah sie im Wind trudeln. Der Gedanke, ins Szymanowski-Institut zurückzukehren, machte
mich nervös; ich fürchtete mich vor diesem Buch, das wuchs und wuchs und langsam monströse Ausmaße annahm. Aber ich wusste, dass ich die Geschichte zu Ende schreiben musste, dass ich in gewisser Weise sogar Teil davon war. J. K. hatte auf etwas - jemanden - gewartet, und er hatte mich zum Ventil seiner Erlösung erkoren. Die Vorstellung beängstigte mich und machte mich gleichzeitig stolz, und ich liebte ihn auch ein bisschen, obwohl ich manchmal glaubte, dass ich das nur tat, weil ich irgendwie von der Person Speranza Martinique besessen war.
Schließlich kehrte ich ins Institut zurück. Ich nahm die Interviews mit J. K. wieder auf. Er war launischer denn je; an manchen Tagen saß er schweigend vor mir und wechselte von Persönlichkeit zu Persönlichkeit, ohne ein Wort zu sagen, ich blinzelte, und eine neue Person saß mir gegenüber. Ich kannte die Gesichter inzwischen. In Johnny Kindreds Unschuld lag die unauslöschliche Erinnerung an ausgestandene Qualen; Jonas Kay war eine zornige Fratze; James Karney erschien mit müder Resignation; es gab auch andere, die nur selten und flüchtig auftauchten: Johannes Klagendorfer mit seinem Grinsen, Joszef Kandinsky, der ausgezeichnet Russisch sprach; ein oder zweimal war mir auch Joszefina begegnet, die »Zwillingsschwester«, die lispelte und wie eine schlechte Parodie von Marlene Dietrich die Hüften schwenkte.
Und immer saß La Loge im Hintergrund, machte sich Notizen, hielt seine Spritze bereit, falls der Patient außer Kontrolle geriet. Immer öfter schienen die Personen in einen Zustand abzudriften, in dem sie nur noch in die Luft starrten und ich sie nicht mehr auseinanderhalten konnte.
Eine Woche steckten wir bereits in dieser Sackgasse, als ich ihn mal wieder fragte: »Du wurdest von dem alten Indianer entführt. Was geschah dann? Was wurde aus dir?«
Ich war sicher, dass ich mit Johnny Kindred gesprochen hatte. Die Augen waren weit aufgerissen, das kindliche Lächeln
stand auf seinem Gesicht, und die wenigen Worte, die er mit mir gewechselt hatte, hatte er mit kindlich piepsender Stimme gesprochen.
In derselben Stimmlage erklärte mir jetzt J. K.: »Ich weiß nicht, warum du ihn immerzu fragst. Du musst doch wissen, dass er kein Englisch spricht.«
»Wer spricht kein …« La Loge schaute von seinem Notizblock auf. Zum ersten Mal seit Tagen schien er überrascht.
»Der Indianer. Du weißt doch, Shungmanitu Hokshila, der Wolfsjunge.« Sein Gesicht verzerrte sich; ich war wieder mit dem verständnislosen Starren konfrontiert und begriff endlich, dass ich es mit einer simplen Sprachbarriere zu tun hatte, nichts weiter.
»Das durchbricht das Muster!«, ereiferte sich La Loge. »Kein J. K.«
Eine neue Stimme: Jonas Kays. »Alter Narr! Es gibt keine Jotts und Kas in der Indianersprache. Sie hatten keine Schrift!«
»Sehr logisch gedacht!«, gab La Loge anerkennend zu.
Dann kam eine neue Stimme. Sie sprach Lakota, in gemessenem Rhythmus und mit fast hypnotischer Sprachmelodie - wie eine zeremonielle Trommel. Sie begann im Falsett wie die eines Kindes, aber sie sprang immer wieder nach unten - die Stimme eines Knaben im Stimmbruch. Ich verstand nur ab und zu ein Wort, Bruchstücke, die ich früher schon aufgeschnappt hatte - das Wort Shungmanitu, das Wolf bedeutet, das Wort Olowan für »Lied«. Nach ein paar Minuten begann die Stimme zu singen. Kindlich unsicher, mit dem leichten Zittern eines alten Mannes. Ich war ratlos.
»Du kannst nicht verlangen, dass ich verstehe, was …«, setzte ich an.
Eine andere Stimme, wieder eine Jungenstimme, unterbrach den Gesang. Noch ein neuer Darsteller auf der Bühne. »Tach, Miss Speranza. Ich bin rausgeschickt worden, damit ich Ihnen
das übersetzen tu, was mein Indianerbruder sagt. Ich heiße Jake Killingsworth.«
»Hallo, Jake«, begrüßte ich ihn vorsichtig. Dr. La Loge hatte einen neuen Notizblock hervorgezaubert. Er war aufgeregt. Anscheinend war das wieder ein Durchbruch. »Bist du mir schon einmal begegnet? Als wir zusammen reisten?«
»Ich habe noch nie kein Wort mit Ihnen gesprochen, Madam«, antwortete Jake Killingsworth, »bis heute. Aber ich habe Sie durch die Augen von den anderen Kindern gesehen. Solange die immer rumgetobt und rumgemacht haben, war ich tief im Wald geblieben und hab gewartet, bis ich rauskommen kann. Ich war bei dem Wolfsjungen von dem Tag an, wo er geboren worden
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