Wolfsruf
Jäger. Sie waren meilenweit zu hören, trampelten durchs Unterholz, grölten angetrunken herum und feuerten wahllos in die Gegend.
»Versteck dich, Scott, schnell!«, zischte Teddy. Die drei zogen sich eilig in die Höhle zurück, genau wie in der letzten Nacht. Aber diesmal kamen keine Werwölfe; sie kehrten nur ungern zweimal an denselben Platz zurück.
Scott schrie auf, keine Worte. Teddy warf ein paar abgestorbene Äste über seinen Freund. Die Jäger waren ganz in der Nähe; etwas musste sie angelockt haben; vielleicht die Glut draußen.
Stimmen: »Der Teufel soll mich holen, wenn hier nicht jemand ist. Vielleicht in der Höhle da.«
»Geh bloß nicht rein. Am Ende hockt das ganze Rudel da drin und wartet nur darauf, uns in Stücke zu reißen wie den alten Jebediah Snipe.«
»Ich hab keine Angst vor Wölfen nich’.«
Schritte. Näher jetzt. Angst erfasste sie. Teddy glitt tiefer in den Schatten. Ein leises Rumoren: Wolfsatem. Teddy wusste, dass Scott sich jetzt verwandelte, trotz der Dunkelheit und gegen seinen Willen. Die Angst nahm Scott gefangen, die Witterung von Furcht, Teddys Furcht.
Männer in der Höhle. Er wusste nicht, wie viele.
»Ich sag’ dir doch, ich hab keine Angst vor ihnen. Sie sind Ungeziefer.«
Flackerndes Licht: eine Laterne. »Jemand hat in dieser Höhle gewohnt.« Schwaches Licht über den Silberkreis: »Sieh dir das an!«
»Das müssen hundert Dollar sein! Hier, greif zu!«
Und sie brachen den Silberkreis. Er roch Scotts Verwandlung, auch wenn er sie nicht sah.
Scott sprang sie an. Scott, ein halber, fauchender Wolf. Sie feuerten immer und immer wieder. Ohne Erfolg.
Bis die Chinesin hinaustrat, den Wolf umklammerte, ihn zurückzuhalten versuchte. Sie hatten sie verwundet, als Schild gegen den Wolf verwendet, als sie gemerkt hatten, dass der Wolf sie dann nicht angriff. Dann hatten sie sie fortgeschleppt und sich dabei lauthals über die unaussprechlichen Sünden ausgelassen, die sie begangen haben musste …
Heute würde sie gehenkt werden. Die Nachricht war Teddy während seiner Reise wie ein Lauffeuer entgegengeschlagen. Weil alle um ihr Leben und um das Leben ihrer Kinder fürchteten und weil jemand dafür sterben musste.
Teddy stand auf dem Platz, wurde wider Willen von dem Schauspiel angezogen. Es war eine Stunde vor Mittag, aber die
Menschen drängten sich hier bereits. Er stand auf der Veranda vor Dr. Swansons Haus. Er wollte die Hinrichtung eigentlich lieber nicht sehen, aber es waren so viele Menschen hier, dass er nicht als Feigling dastehen wollte. Es war sonnig, freundlich und sommerlich. Die Menschen schwitzten in ihren Stiefeln, und der Geruch von Pferdemist lag in der Luft. Teddy blieb eine Weile unschlüssig stehen und dachte an die Chinesin. Vielleicht konnte er sie irgendwie retten - wild schießend in den Ort galoppieren und sie vom Galgen holen. Er hatte schon eine Menge derartiger Geschichten gehört, aber sie spielten sich immer in weit entfernten Städten ab, Virginia City zum Beispiel oder Abilene.
Je heißer es wurde, desto tiefer trat er in den Schatten von Dr. Swansons Veranda zurück. Schließlich lief ihm der Schweiß in den Kragen, und er wagte sich in die Eingangshalle. Eine Frau kam die Treppe herunter. Er hätte sich nicht träumen lassen, dass er sie jemals wiedersehen würde.
Er zog vor ihr den Hut. Sie erstarrte, als hätte er sie beim Stehlen ertappt. Dann lächelte sie verlegen und sagte: »Teddy Grumiaux.«
»Sehr wohl, Madam. Sind Sie gekommen, um die Hinrichtung anzugucken?«
Speranza legte die Hand auf die Stirn. Gleich kippt sie um, dachte Teddy. Er eilte ihr zu Hilfe und reichte ihr seinen Arm. Seine schwieligen Hände strichen über Seide, edle Seide, und hinterließen schmutzige Spuren auf den Manschetten, aber das schien ihr nichts auszumachen. Sie sagte: »O Teddy, Teddy, es tut so gut, jemanden zu sehen, der versteht …«
Draußen wurde die Menge langsam ungeduldig.
»Sie sollten sich hinhocken, Madam«, sagte Teddy, »bevor Sie ohnmächtig werden.« Er half ihr zu einem Sofa im Foyer, am Fuß der Treppe. Einige von Dr. Swansons Patienten musterten sie neugierig; die meisten, die hinaufgingen, waren nicht krank, sondern wollten bloß einen Logenplatz für die Hinrichtung.
Das Gefängnis lag eine Viertelmeile vom Hinrichtungsplatz entfernt. Cordwainer Claggart hatte einen Besuch bei der Verurteilten arrangiert. Sie wurde eben aus der Zelle gebracht, als Major Sanderson erschien.
Er und Claggart waren ein seltsames
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