Wolfsruf
Hills
Abnehmender Mond
Sie flohen ohne große Schwierigkeiten aus Lead; Speranza ritt hinter dem Knaben durch die Dunkelheit. Als sie die Stadt verließen, wurde die Luft besser; im Wald duftete es nach Nadelholz, und in der Ferne plätscherte Wasser.
Es war ein anstrengender Ritt bergauf. Im Morgengrauen band Teddy das Pferd am Ufer eines Baches an, und sie setzten ihren Weg zu Fuß fort. Es ging steil die Hügel hinauf, und die Luft war frisch, auch als die Sonne herauskam. Die Kiefern wuchsen hier dicht. Nach einer Weile empfand sie ihre Schuhe als steif und beengend, und sie ging barfuß. Der Boden war weich, feucht, mit Astern, Zwergbrombeeren, Ringelblumen, Veilchen übersät. Licht drang durch die leise schaukelnden Wipfel und sprenkelte das Unterholz, sodass sie zwischen Warm und Kalt, Kalt und Warm hin und her wechselte.
Dies war nicht der Wald aus Speranzas Träumen. Dort war die Atmosphäre ganz anders. Nein, dachte sie, hier herrscht Ehrfurcht, keine Angst.
Teddy half ihr die letzten Meter hinauf. Sie fürchtete sich ein wenig vor ihm. Ihn umgab immer ein leichter Anflug von Melancholie, selbst wenn er lächelte. Er erzählte ihr mehr von sich als je zuvor, mehr, vermutete sie, als er irgend jemandem bisher erzählt hatte. Als sie hörte, wie Claude-Achille Grumiaux gestorben war, überlief sie ein eiskalter Schauer, weil sie wusste, dass dieser Mann einen Faktor in den Berechnungen des Grafen dargestellt hatte; in den Berichten Natalia Petrownas nach Wien wurde sein Name mehrmals erwähnt.
Sie erreichten die Höhle. Es war Mittag. Als sie eintrat, erhob sich ein junger Mann und begrüßte sie. Sie blieb wie angewurzelt
stehen, denn er strömte den Wolfsgeruch aus, der ihr so vertraut geworden war.
»Mein Name ist Scott Harper, Madam. Verzeihen Sie bitte«, sagte er, »dass ich meinen Hut nicht vor Ihnen ziehen kann; ich habe ihn längst verloren.« Sein Haar war sandfarben, sein Körper schlaksig, aber er besaß Stil. Sie gestattete ihm, ihr die Hand zu küssen. Seine Lippen waren warm, wie Hartmuts.
Teddy erklärte ihm: »Das ist Miss Speranza, Johnnys Erzieherin. Wir werden Johnny finden.«
Speranza sah das gekreuzigte Kind vor sich. Sie begann zu zittern.
»Die Indianer haben ihn«, meinte Teddy. »Ich kenne sie. Als ich mit meiner Ma im Sioux-Dorf lebte, sprachen die Indianer manchmal von einem anderen Stamm, der hoch in den Bergen wohnt. Sie nannten sie Shungmanitu Tanke - die Wölfe. Und ich weiß, dass der alte Indianer ein Werwolf ist wie die Leute in Winter Eyes. Aber sein Volk ist anders. Sie sind keine Mörder. Schätze, sie haben Johnny aufgezogen, weil sie nicht wollten, dass er wie sein Pa endet.«
»Es ist gefährlich«, wandte Scott ein. »Ich verstehe nicht, warum du diese Dame einer so großen Gefahr aussetzen willst.«
»Ich bin keine Dame mehr«, widersprach Speranza leise. »Ich war die … Hure des Grafen.« Sie schauderte.
»Nein, Madam«, sagte der Soldat. »Sie waren niemandes … aber ich vergesse meine Manieren. Ich sollte Ihnen zu essen und zu trinken anbieten.« Er führte sie zu einer Behelfscouch aus Heu und wilden Brombeeren und reichte ihr eine Blechtasse voll Kaffee sowie einen Streifen geräuchertes Hasenfleisch. Der Boden der Höhle war mit Silber übersät: Zehn-Cent-Stücke, Dollars, Armreife, ein paar formlose Klumpen … und Kugeln. Während sie trank, fuhr er fort: »Glauben Sie mir, Madam, ich weiß, wie sie ihre Opfer in ihre Welt zerren. Sie schauen Ihnen in die Augen, Madam, und schon sind Sie gefangen, umgarnt, ehe Sie es ahnen.«
Jetzt erkannte sie ihn. Er war bei dem Angriff auf Winter Eyes dabei gewesen. Er war derjenige, den Natalia erkannt hatte. »Aber … sind Sie nicht übergelaufen? Auf ihre Seite? Ich dachte, Sie wären … einer von ihnen geworden.«
»Der Junge hilft mir. Aber ich weiß nicht, ob ich lange durchhalten könnte, wenn die Russin nach mir suchen würde.«
»Und Sie haben … Wölfe getötet.«
»Ab und zu.«
»Und … sind selbst einer.«
»Wie gesagt, der Junge hilft mir.« Ihr Blick fiel auf das verstreute Silber, und sie begriff, wozu es diente. Man konnte Kugeln daraus schmelzen - und es hemmte Scott Harpers Transformation. Wie lange kämpfte er schon gegen seine wahre Natur an? Als hätte er ihre Gedanken erraten, fuhr Scott fort: »Das ist bereits so, seit Ihr kleiner Junge gestohlen wurde, Miss Speranza. Seit fast zwei Jahren. Ich kämpfe dagegen an, aber ich weiß, dass ich irgendwann den Kampf
Weitere Kostenlose Bücher