Wolfsruf
Später hielt mich die Frau, die wie eine Mutter zu mir war, und ich weinte. Sie wusste nicht, dass ich es war, der weinte, denn ich konnte nicht sprechen und mich zu erkennen geben. Später griff in einer großen Stadt der Weißen das Mensch-Tier ein Kind an, obwohl es in ein Haus floh, das Wakantanka heilig war. Das Mensch-Tier war ohne Gnade; ich spürte das Mitleid. Ich konnte es nur aufhalten, weil ich es aus dem Bewusstsein zerrte; das Menschenkind übernahm den Körper, und ich weinte durch seine Augen.
Versteht ihr all das, was ich euch sage? Ich bin ein gebrochener Kreis, ein zersplitterter Schild. Durch euch werde ich ganz sein.
Lange musste ich reisen. Ich überquerte das große Meer. Ich ritt in einem eisernen Pferd über die Prärie. Und dort hörte ich Ishnazuyais Lied. Dort hörte ich die Worte, die ich nur halb verstand, die aus einer großen Tiefe aufstiegen in mir. Ich hörte das Lied seiner Flöte in meinen Träumen. Sie rief mich wie
Siyõtanka, die Flöte der Liebe. Ich umarmte die Luft wie ein Liebhaber. Hechitu welo!
Die Wolf- Washichun sind gekommen, um euch dieses Land zu nehmen. Sie wollen eure Erde markieren und sie faulen lassen. Sie wollen vom Fleisch der Lakota und Cheyenne und Arapaho essen, nicht weil das Fleisch bereit ist, sondern weil sie gerne anderen Schmerz zufügen. Das habe ich auf meiner Reise durch die Prärie gelernt. Auch wenn ihr euch nicht vorstellen könnt, warum ein Wesen Hunger nach dem Land verspürt, sage ich euch, dass es so ist. Siché lo!
Und im Lied von Ishnazuyais Flöte, in dem Lied der Liebe, hörte ich auch die Todesgesänge vieler Shungmanitu. Ich sah unser Volk zerbrechen und verzweifeln, und ich sah alte Frauen im Schnee sterben. Ich sah, wie der Winter jedes Jahr länger wird, bis es nur noch Winter gibt, ewigen, einsamen Winter.
Aber in dem Lied hörte ich auch Heilung. Das Lied lockte mich aus dem Versteck, in dem ich die ganzen Jahre gelebt hatte. Ich hörte Worte, wie ich sie mir nie erträumt hatte, und schließlich fand ich den anderen Wolfsjungen und jagte ihn fort. Eine Seele nach der anderen werde ich in mich aufnehmen, bis wir geheilt sind. Und meine Heilung wird Heilung für alle Shungmanitu sein. Denn selbst den anderen Wolfsjungen, der nur nach Blut dürstet, werde ich in mich aufnehmen. Es gibt ein gemeinsames Schicksal für alle Shungmanitu. Auch die Wolfsmenschen vom anderen Ufer des Meeres sind ein Teil von Wakantanka. Auch sie können Mitleid empfinden. Ich habe es gesehen. Ich werde euch alle an ein gemeinsames Ziel führen, und wir werden den Mondtanz zusammen tanzen, weiß und rot, Dunkel und Licht.
Und der Kreis wird sich schließen.
Als Jake Killingsworth Johnny diese Worte übersetzte, bekam Johnny Angst. »Er will mich ausradieren!«, sagte er. Wieder kauerte er in seinem Baumhaus.
Jake sagte: »Er wird den alten Mann bitten, auf die heilige Wanderung gehen zu dürfen. Er ist noch jung, aber der Alte wird es ihm nicht verwehren. Er ist den Indianern heilig, weil er die Vision des Alten wahrgemacht hat. Fleischgewordenes Wort, würde der alte Priester sagen.«
»Aber er will uns in sich aufnehmen. Ich will kein wilder Indianer werden, ich will heim zu Speranza.«
»Er wird uns heilen.«
»Ich will nicht mit Jonas Kay zusammen sein! Ich werde immer nur hässliche Dinge denken und immer zornig sein.«
Jake beruhigte ihn: »Er sagt, wir werden alle wiedergeboren. Wir alle … und die Indianer … und die Leute des Grafen auch.«
»Aber wenn wir wiedergeboren werden … müssen wir dann nicht erst sterben?«
Darauf wusste Jake keine Antwort. Aber der Indianerjunge zog die Schleier des Bewusstseins beiseite und ließ sie die Gesichter der Zuhörer sehen. Der Indianerjunge hatte aufgehört zu sprechen, und jetzt sprachen die Männer über seine Worte, einer nach dem anderen, in sorgfältig überlegten Sätzen. Johnny wollte fliehen. Er fürchtete sich vor dem Tod. Natürlich wollte er geheilt werden. Aber zuerst musste er noch etwas erledigen, musste er sich an etwas erinnern - etwas aus der Vergangenheit - vielleicht aus dem Irrenhaus - etwas wegen seiner Mutter.
»Du hast keine Mutter!« Es war ein raues Hecheln, und Johnny merkte, dass Jonas ihn nicht verlassen hatte. Was immer es auch war, der Indianer führte sie direkt darauf zu. Und sie würden sich ihm alle stellen müssen.
Und sterben.
Das Tipi war voll und stickig, aber in den Augen der indianischen Werwölfe leuchtete Hoffnung.
6
Black
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