Wolfsruf
Zimmer. Speranzas Herz raste. Der Gestank von draußen vermischte sich mit dem Tiergeruch. Die Diener waren dem Grafen zu Hilfe geeilt, einer stillte das Blut mit einem Handtuch, der andere füllte eine Schüssel mit dem Wasser vom Nachttisch.
Sie wich immer weiter zurück, ohne ihren Blick von Hartmuts Augen abwenden zu können. Selbst als die Schnauze sich durch das Menschenfleisch bohrte, selbst als die Zähne länger wurden und ihm die Zunge hechelnd aus dem Maul hing, selbst als der Graf auf alle viere fiel, selbst dann waren seine Augen noch menschlich, und sie erkannte, was er für sie empfand … denn seine Augen sagten: »Hab Mitleid mit mir«, und sie wusste, dass er sie liebte.
Aber sie griff nach ihrer Börse auf dem Nachttisch, in der sie all die Ersparnisse der letzten Jahre verwahrte. Teddy Gru- miaux half ihr auf den Sims hinaus, und dann musste sie sich von Hartmuts Anblick abwenden. Hartmuts Heulen stieg in die
Luft und ertrank im Klimpern der Saloon-Klaviere und dem Jammern des Sommerwinds.
Es war nur gut, dass der Sheriff in Miss Hayvenhursts Etablissement gerufen worden war, wo er sich mit dem Fall Cordwainer Claggart beschäftigen musste, denn so konnten sie unbemerkt aus Lead hinausgelangen. Gut für Claggart war dagegen, dass Major Sanderson immer noch in der Stadt weilte und für ihn bürgte.
Es war außerdem gut für Claggart, dass Nitas junger Kunde geflohen war und sich deshalb nicht gegen Claggarts Anschuldigungen verteidigen konnte, er sei betrunken gewesen und ausfallend geworden; es war auch gut für Claggart, dass Nita eine Hure und ein Halbblut dazu war, sodass man ihr keinen Glauben schenkte.
Es war ganz besonders gut für Claggart, dass Gina Hopwood gefesselt auf dem Bett lag und ihr Gehirn aus ihrem zertrümmerten Schädel schleimte. Es war gut, dass Miss Hayvenhurst, während sie die graue Masse sorgfältig von den Wänden und vom Boden schrubbte, sich bereits überlegte, wie sie einen Skandal um ihr ohnehin schon übel beleumdetes Haus vermeiden konnte.
Die Blume der toten Waise aber blieb ungepflückt; denn seit Cordwainer Claggart die dunkelsten Wege der Lust beschritten hatte, verachtete er es, auf konventionelle Art mit einer Frau zu verkehren.
Es stimmt, überlegte er, während er das Haus verließ, ins Gespräch mit Major Sanderson vertieft, ich bin viel zu sensibel, als dass ich mich mit etwas so Vulgärem wie Bumsen zufriedengeben könnte.
Er hatte den Zwischenfall ohnehin beinahe schon wieder vergessen, so verlockend war die neue Spur, die sich ihm aufgetan hatte: Der verrückte alte Indianer hatte etwas mit dem Wolfsjungen zu tun! Schon schmiedete er neue Pläne.
Er hörte den langweiligen Erklärungen des Majors gar nicht zu, der die Stärken und Schwächen des verstorbenen General Custer vor ihm ausbreitete, so sehr war er von seiner Idee gefangen. Er registrierte auch nicht die steife Leiche der Chinesin, als sie am Galgen vorbeikamen. Er bemerkte nicht einmal die schwarze Kutsche, die über die Hauptstraße in Richtung Deadwood donnerte.
5
Das Dorf der Shungmanitu
Mond im letzten Viertel
Die Nächte waren klar, die Tage glühend heiß; von den Bergspitzen konnte man bis ans Ende der Welt sehen - und mit den Augen des Geistes, den Augen des kreisenden Adlers noch darüber hinaus, in die Zukunft und in die Vergangenheit. Der Wolfsjunge wurde unter Little Elk Womans Obhut stärker und stärker, und innerhalb weniger Tage begann er zu wachsen, obwohl seine Gestalt sich vielleicht nur seinem wahren Alter anpasste.
Es war eine Zeit der Freude im Land der Shungmanitu. Obwohl sie sich vor den Washichun in die entlegensten Bereiche der heiligen Hügel zurückziehen mussten und es nur wenig zu essen gab, war Ishnazuyais Volk nicht traurig. Hatte die Vision des Häuptlings sich nicht erfüllt? Der weiße Junge, der von einem Grauen errettet worden war, das nur andere Bleichgesichter verstehen konnten, sprach endlich die wahre Sprache; fast als wäre seine Vergangenheit für immer begraben. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sich der Rest der Prophezeiung ebenfalls erfüllte - dass der Junge die Wolfsmenschen, rot und weiß, in eine gemeinsame Zukunft führen würde, die niemand vorherzusehen vermochte.
In der ersten Nacht sprach der Junge wie ein Baby, deutete lachend auf verschiedene Gegenstände und sprach ihre Namen aus.
Am nächsten Morgen sprach er bereits wie ein Kind, stellte immer neue Fragen, war selbstsicher, führte die anderen Kinder an.
Weitere Kostenlose Bücher