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Wolfsruf

Titel: Wolfsruf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S.P. Somtow
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Ein Cousin machte ihm einen kleinen Bogen, und er ritt, als wäre er immer einer der ihren gewesen. Ishnazuyai schenkte ihm eine Pferdedecke als Sattel und ein perlenbesticktes Lederamulett mit einem Knochen von einem Eidechsentier, das schon lange nicht mehr auf der Erde wandelte. Im Vertrag stand, dass die Black Hills nicht mehr den Indianern gehörten, aber die Shungmanitu verstanden es, sich unsichtbar zu machen. Tagsüber ritten sie über die saftigen Grasebenen, ohne sich darum zu scheren, ob der weiße Mann dieses Land Dakota oder Wyoming nannte. Der Junge lernte, auf Grashalme zu schießen; und nach zwei Tagen kam er bereits mit den Waffen der Männer zurecht.
    Als der Mond der wilden Erdbeeren zum Halbmond geschrumpft war, redete er wie ein Erwachsener in gleichmäßigem Rhythmus und hatte gelernt, wie alle Stammesmitglieder mit angemessenem Respekt und Ehrerbietung anzusprechen waren. Und er begann, ihnen von seinen Visionen zu erzählen.
    Am Tage spielte der Knabe mit den anderen Kindern aus dem Dorf. Es gab nicht viele Kinder, denn die Shungmanitu waren nie ein großes Volk gewesen, und jetzt waren nur noch wenige Familien übrig. Ihre Spiele waren uralt: Es gab ein Kriegsspiel mit Lanzen aus Grashalmen; ein Liebesspiel mit einem ausgehöhlten Zweig als Liebesflöte, die das Lied des Spechtes nachahmte. Der Junge spielte sehr schön, und die Erwachsenen flüsterten einander zu, dass er bald reif genug wäre, um die Winchinchalas zu umwerben und ihr Herz zu brechen. Auch wenn der Junge seltsam aussah, so war er doch hübsch, und er wuchs so schnell heran, dass der Sommer, in dem er
den Kriegshäuptling herausfordern könnte, vielleicht gar nicht mehr so weit entfernt war, wie es schien.
    Eines Nachts, als sich die Männer des Stammes und ihre Freunde in Ishnazuyais Tipi versammelt hatten, erzählte er ihnen, wie er zu dem geworden war, was er war. Während er sprach, waren seine Augen halb geschlossen, und er gebrauchte viele seltsame Worte, um Dinge zu beschreiben, die ein Mensch sich kaum vorstellen konnte. Aber die Männer hörten ihm mit ernster Miene zu, und die Jungen mit großen Augen, als verkündete er ihnen einen alten Mythos. Und draußen wisperten aufgeregt die Frauen und Mädchen. Ein Mädchen, das bereits ein wenig in den Knaben verliebt war, kauerte neben dem Zelteingang und versuchte zu lauschen.
    Und dies ist die Geschichte, die Shungmanitu Hokshila erzählte:
     
    Ich bin ein einziger Körper mit vielen Seelen. In mir sind gute Menschen und böse Menschen, Männer und Frauen und sogar Winkte, Mann-Frauen. Aber ich, der Wolfsjunge, war von Anfang an da, obwohl ich meinen Namen nicht kannte und auch nicht die Menschensprache. Ich sah, wie die anderen um den Körper kämpften. Einer von ihnen war ein Wolfsjunge wie ich; die anderen waren Menschen und leugneten das Tier in sich. Der Washichun -Wolfsjunge in mir wusste, was er war, aber er liebte nur das Tier und den Schatten, er kannte mich nicht, denn ich war nur ein Beobachter und sprach nicht. Er glaubte, dass er allein die wahre Seele des Körpers und das Mensch-Tier war. Aber die anderen Seelen hatten sein Mitleid und sein Fühlen und seine Liebe gestohlen; so blieben ihm nur noch der Hass und die Lust am Töten.
    Wir waren nicht immer geteilt. Einst waren wir eine einzige Seele. Aber ich bin der Einzige, der das weiß. Und ich weiß nicht, warum es geschah. Ich glaube, es geschah, als der Körper noch sehr jung war und in einem Haus lebte, wo die Kranken
wohnten - denn bei den Washichun gelten Menschen, die Visionen haben, als krank; die Washichun glauben nicht an Träume, sie wollen, dass alles kalt und ohne Seele ist.
    Zuerst kannte ich meinen Namen nicht. Ich verstand ihre Sprache nicht. Nur wenn der Mond voll war und das Mensch-Tier den Körper beherrschte, verstand ich manches, aber nur in der Sprache der Nacht. Ich verstand den Geruch der Angst. Ich verstand Hunger. Und manchmal Lust. Wenn das Mensch-Tier seine Opfer angriff, sah ich durch seine Augen. Einmal oder zweimal versuchte ich herauszukommen. In einem Eisenpferd in Europa, das ist das weit entfernte Land der Washichun, fiel das Mensch-Tier eine Squaw an. Ich wollte das Mädchen um Verzeihung bitten, denn schon damals wusste ich, dass wir nicht um des Tötens willen töten dürfen, sondern um zu überleben. Die Beute fügt sich, wenn sie bereit ist und den Ruf des Räubers hört. Dieses Mädchen war nicht bereit. Sie beachtete mich nicht, als ich sie um Vergebung bat.

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