Wolfsruf
wieder auf den grinsenden Totenschädel ein. Der Major lachte.
»Nur ein Traumwesen kann ein anderes Traumwesen töten«, sagte er. Von da an schien er überhaupt keine Notiz mehr von dem jungen Mann zu nehmen, der mit dem Knauf seines Colts immer wieder auf ihn einhämmerte, auch das Fleisch des Pferdes hatte sich aufgelöst - die Knochen schepperten und bohrten sich in seinen Hintern, während das Skelettross durch die Luft jagte - und hinter ihnen näherten sich die Horden des Todes, Skelette in Uniform, unter dem nicht enden wollenden Angriffssignal -
»Sie sind nicht einmal real«, stellte Teddy fest.
»Nein.« Der Major machte seinen Tonfall nach. »Schätze, das bin ich wirklich nicht.«
Sie rollten die Kanone den Fels hinauf. Während der Major die Arbeiten überwachte, glättete sich der Boden und bildete eine Rampe. Die Trompeter bliesen wie besessen. Standarten flatterten, Kanonenräder quietschten, Holz und Metall auf Fels.
Heiliger Jesus!, dachte Teddy. Die da oben werden sterben. Alle werden sterben. Und niemand kann das verhindern.
»Verschwinden Sie endlich aus meinem Traum.« Der Major saß kerzengerade und wischte den jungen Mann vom Pferd, als wäre er nur eine lästige Fliege vor seinem Gesicht. Teddy fiel, Steine schlugen ihm ins Gesicht, spitzer Schotter bohrte sich in sein Fleisch, als er bergab rollte.
Er trieb aus der Vision des Majors.
Aus Johnnys Traum.
Der Mond trat hinter den Wolken hervor. Er prallte gegen einen Felsbrocken. Seine Hände waren aufgeschürft und bluteten, und ein Auge war zugeschwollen.
Er schaute sich um, versuchte, sich aufzusetzen. Tote umgaben ihn. Soldaten mit Pfeilen im Rücken, die wie Stachelschweine aussahen. Indianer mit aufgeschlitzten Bäuchen. Männer mit abgetrennten Gliedern, verkokelte Männer, verschrumpelte Männer, zerstampfte, verbrannte Männer. Keine Überlebenden.
Qualm, der nach Schwefel und verbranntem Fleisch roch.
Wo war Sanderson? Wo waren seine eigenen Leute? Teddy schaute hinauf zu dem Sims, der unerreichbar für alle, die nicht auf den Flügeln des Traumes schwebten, in den Himmel ragte. Er sah unendlich kleine, tanzende Gestalten. Der Wind war zu stark, als dass er Musik gehört hätte.
Plötzlich glaubte er, auch die Pferde und Kanonen der Elften Kavallerie zu erkennen, die sich den Tänzern näherten. Ich träume, sagte er sich und taumelte durch den Nebel. Fliegen umsurrten Iron Hand, der an einem Felsen lehnte und in dessen Brust Dutzende Bajonettspitzen steckten.
Aber im Wald in Johnny Kindreds Geist, auf der Lichtung im Herz des Waldes, im Auge des Sturms, der über Weeping Wolf Rock hinwegbrauste, herrschte absolute Stille.
Die Personen im Wald standen am Rand des Kreises. Der Indianer rief sie nacheinander zu sich. Johnny teilte bereits die Weisheit des Indianers und beherrschte die Sprache der Lakota so gut wie seine Muttersprache. Er hatte bereits James Karneys Ergebenheit und Jake Killingsworths Selbstvertrauen in sich aufgenommen. Einer nach dem anderen verschmolz mit ihm, während der Indianer die Liebesflöte spielte.
Wenige befanden sich noch außerhalb, unter ihnen Jonas Kay. Während Johnny durch die vielen Persönlichkeiten gealtert war, blieb Jonas immer noch ein quengelndes Kind. Aber er tobte nicht, obwohl sie alle den Mond spürten, der hinter der gleichmäßigen Wolkendecke an ihnen zerrte. Jonas Kay lag zusammengerollt am Rande des magischen Kreises. Er nuckelte am Daumen.
»Jonas«, sagte Johnny. »Es wird Zeit zum Heimkommen.«
»Ich habe … Angst.« Woher kam diese Furcht? Einer der anderen, dachte Johnny. Auch wenn er noch nicht mit uns verschmelzen möchte, ist das zum Teil doch schon geschehen.
Johnny streckte seine Hand über die blassblauen Flammen aus. Das Feuer tat ihm nichts. Er strich Jonas über die Wange. »Wir sind beieinander«, sagte er. »Du kannst keine Angst mehr haben.«
»Du wirst mich töten. Aber wenn der Mond kommt … dann werden wir endlich sehen. Du hast mich nie wirklich verstanden. Wenn der Mond kommt, wirst du begreifen. Du wirst mich nicht wollen. Du wirst mich verbannen … und nie ein Ganzes werden.«
Dies sah Speranza: Der Himmel war elektrisiert, Farben tanzten wie das sagenhafte Polarlicht; der Wind umtoste sie; der Junge saß reglos im Zentrum des Orkans. Die Tänzer bewegten
sich langsam zu einer klagenden Flötenmelodie und zu dumpfen Trommelschlägen, bewegten sich und verharrten zugleich. Sie tanzten nackt, die Frauen in einem äußeren Kreis, die
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