Wolfsruf
Schmerz, eigene Qualen … ich habe gehört, wie er sagte, dass er dich liebt.«
»Ich hasse ihn! Ich hasse meinen Vater!«
»Du musst ganz werden …« Sie umarmte ihn und wusste,
dass sie Jonas ebenso wie Johnny umarmte, dass sie nicht mehr unterscheiden konnte, wo das Licht endete und die Dunkelheit begann.
Der Mond trat hinter den Wolken hervor.
Der Traum löste sich langsam auf. Der Wind umwehte sie immer noch. Die Indianer tanzten immer noch. Bis Johnny sagte: »Ich sehe einen Mann in Schwarz …«
»Nein, Johnny«, widersprach Speranza leise. »Er ist fort. Wir haben ihn getötet. Wir haben uns ihm gestellt. Er ist fortgegangen.«
Dann hörte sie Trommelwirbel und Pfeifentrillern und Trompetenstöße, und sie sah die Kavallerie auf sie zureiten und -
Mondlicht! Die ersten Strahlen trafen die Frauen im äußeren Kreis, und eine nach der anderen verwandelte sich -
Ein Lichtfleck legte sich über die tanzenden Kinder -
Bäume knickten ab! Felsen explodierten! Ein dumpfer Schlag, ein Pulverblitz und -
Soldaten! Wie waren sie auf Weeping Wolf Rock hinaufgelangt? Soldaten, deren Gewehre mit Silber geladen waren. Eine Kanone. Immer mehr brachen aus dem Kreis der Tänzer, sprangen die Soldaten noch während der Verwandlung an, rissen Gesichter auf, nagten an Händen.
Johnny tanzte unermüdlich. Der Adler kreiste direkt über ihm.
Sie fielen auf alle viere, erst einer, dann immer mehr - Schnauzen streckten sich, Krallen wuchsen aus Fingerspitzen, Haar spross aus dem Körper und -
»Der Mann in Schwarz«, sagte Johnny. »Mein Vater … er ist hier.«
Und sie schaute auf und sah einen Mann in Schwarz auf einem Pferd, der mit gezogenem Säbel und flatterndem Cape auf sie zujagte, aber es war nicht der Graf von Bächl-Wölfling, und sie schrie: »Das ist nicht dein Vater … es ist dieses Monster, Major Sanderson, der euch alle umbringen will …«
Die Kanone spuckte Silberdämpfe - Silberflöckchen taumelten im Mondlicht wie Schneeflocken - ein Kind schrie gellend auf, als es den glitzernden Tod einatmete - eine Frau kratzte mit ihrer Wolfspfote den Schorf auf ihrer Haut ab, bis die Wunden wieder bluteten - langsam und unaufhaltsam verwandelte sich Johnny.
»Versuch, dich festzuhalten … wenigstens so lange, bis …«
Er tanzte.
Die Silberdämpfe zogen sich zusammen, bildeten einen Wirbel, wagten sich nicht in den inneren Kreis. Ermutigt begannen ein paar Tänzer, erneut zu tanzen. Andere waren bereits tot. Ein paar vollkommen Transformierte zerfleischten einen Soldaten und labten sich an den dampfenden Innereien. Aber immer noch tanzten einige. Eine Explosion - ein Wolfskopf mit einem juwelenbesetzten Turban flog durch die Luft - »Chandraputra«, flüsterte Speranza. Und Castellanos wurde von einem silbernen Tomahawk zerschmettert, die linke Hälfte seines Gesichtes noch menschlich, die andere -
Schreie der Sterbenden.
»Sie schlachten uns ab!«, brüllte Speranza.
»Das ist nichts Neues«, antwortete der Junge. »Wer von uns ist die wahre Bestie, Speranza … ich, der die Gestalt eines Tieres annehmen kann, oder der Mensch, der seine tierische Natur ewig verbergen muss, der sich niemals dem Zorn überlassen darf, mit dem wir alle geboren werden … dem Zorn und Schmerz der Geburt selbst?«
Eine Trommel schlug misstönend gegen den Rhythmus der Soldatentrommeln an. In einem schwirrenden Silbernebel galoppierte Major Sanderson auf sie zu, quälend langsam, weil er gegen die Traumkraft des Jungen ankämpfen musste.
»Liebst du mich, Speranza?«
Der Junge tanzte. Weicher, goldener Flaum überzog seine Haut. Seine Augen wurden schmal. Der Wolf war weder der Indianerjunge noch Jonas Kay, sondern eine Mischung von
beiden - ein Wolf, dem Grauen und Mitleid nicht fremd waren.
»Ja, Johnny«, sagte Speranza leise.
»Halte … mich …«
Sie tanzten.
»Hast du … die Waffe … noch?«
»Ja. Mit einer Silberkugel.« Sie berührte den Lauf. Er war kalt.
Sie tanzten.
»Du musst schießen … weil du mich liebst … töte mich! Denn mein Tod wird die Welt zum nächsten Mondtanz schleudern. Ich werde das erste Opfer des Mondtanzes sein, entsprungen der Welt der Tiermenschen und Menschentiere …«
»Du bist verrückt, Johnny!«, schluchzte Speranza und drückte den Jungen an sich. »Johnny, du darfst nicht an den Tod denken … du hast vom Leben geträumt, nicht vom Tod. Ich bin nicht hierhergekommen, um dich sterben zu sehen, sondern um dich zu heilen …«
»Nur der Tod kann mich heilen,
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