Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Wolfsruf

Titel: Wolfsruf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S.P. Somtow
Vom Netzwerk:
erstarrte, lauschte. Das schwere Atmen - woher kam es?

    Ein dumpfer Schlag. Er wirbelte herum. Nein. Nur der Rumpf der Toten war zur Seite geglitten und auf dem Fußboden aufgeschlagen. Wolken und Schnee verdeckten den Mond. Das Atmen war immer noch zu hören. Irgendwo im Zimmer.
    Oder war es das Schluchzen des Russen? »Sir«, tröstete ihn Scott, »die tote Frau ist nicht Ihre Cousine, das weiß ich. Sie muss sich hier irgendwo verstecken. Sie ist nicht tot, das verspreche ich Ihnen.«
    »Geben Sie mir den Revolver wieder … es ist besser, wenn es jemand tut … der sie liebt …«
    »Sie sind zu nervös, Sir, wenn Sie mir die Bemerkung verzeihen. Am besten überlassen Sie das Schießen mir. Immerhin ist nur noch eine Kugel übrig, und dieses teuflische Tier ist offenbar entschlossen, uns umzubringen. Versuchen Sie, sich zu beruhigen.« Damit meinte er sich genauso wie den Fremden.
    Mehr Geräusche! Nein. Schüsse auf der Straße draußen. Sie waren auf die Jagd nach einem wilden Tier gegangen, aber es hatte die ganze Zeit über hier drinnen gelauert.
    Bleib ganz ruhig. Nicht bewegen. Lauschen.
    Und dann - fast als hätte es sich aus den Schatten materialisiert - war es da, fegte über die Dielen, raste zur Tür, schoss in den Gang -
    »Bitte … Geben Sie …«, flehte der Russe schwach. »Nur ich kann Natalia Petrowna töten.«
    Er ist wahnsinnig, dachte Scott. Er jagt die Frau, nicht den Wolf.
    Scott sah ihr Gesicht einen Augenblick lang vor sich, erinnerte sich daran, wie sie ihm auf dem Friedhof vor der untergehenden Sonne zugelächelt hatte. Er durfte dem Russen seine Waffe auf keinen Fall zurückgeben, sonst würde er sie umbringen. »Ganz ruhig«, sagte er. Und schlich hinaus in den Gang.
    Er schaute sich um. Von dem Wolf war nichts zu sehen.
    Eine einsame Kerze brannte auf dem Bücherbord über dem Treppenabsatz. Schatten tanzten auf den Wänden. Scott entsicherte
den Revolver und arbeitete sich langsam vor, die freie Hand immer auf der brüchigen, schmierigen Tapete.
    Eine Bewegung! Silbernes Fell, hellgelbe Augen im Kerzenlicht. Pfoten kratzten über die Tapete - die Kerze rollte auf den Boden, ein fadenscheiniger Teppich fing sofort Feuer -
    »Wasser! Wir brauchen Wasser!«, rief Scott. Die Flammen schlugen hoch. Hitze schlug Scott ins Gesicht, auf seine Hände. Schweiß lief über den Revolver. Und hinter den Flammen - der Wolf.
    Zum ersten Mal sah er ihn ganz deutlich. Das Fell glänzte im Feuerschein. Die Augen glühten. Er schaute dem Wolf in die Augen - und er dachte, ich kenne diese Augen, sie sind wie die Augen einer Frau, einer Frau, die ich kenne, die ich lieben könnte -
    Der Russe stand neben dem Wolf. Er hatte seine Arme in einer flehenden Geste erhoben. Der Wolf ignorierte ihn vollkommen, wandte seine Augen nicht von Scott. Jetzt entwickelte sich dichter Rauch, füllte den Gang, erstickte das lodernde Feuer, und durch den Rauch leuchteten die Augen des Wolfes. Scott bekam keine Luft mehr.
    »Holen Sie Wasser - im Zimmer, neben dem Bett«, keuchte er.
    Vishnevsky sprach immer noch zu dem Wolf. Der Wolf knurrte und war sprungbereit. Scotts Rufe schienen Vishnevskys Litanei zu durchdringen. Er zuckte zusammen und lief ins Zimmer.
    Der Wolf drehte sich wieder zu Scott um, und Scott feuerte -
    Eine dünne Blutspur zog sich über die linke Wange des Wolfes. Nur ein Streifschuss!, erkannte Scott voller Entsetzen. Ein Jaulen stieg aus der Kehle des Wolfes, das seltsam menschlich klang - und dann raste die Bestie ins Zimmer zurück, gerade als Vishnevsky wieder herauskam, die Waschschüssel in der Hand. Vishnevsky kippte das Wasser über den Teppich und
eilte dem Wolf hinterher ins Zimmer. Die Flamme zischte und erlosch. Jemand kam die Treppe heraufgetrampelt, mit einer Lampe; Scott drehte sich um und erblickte Ebenezer. Er trug einen Wassereimer.
    »Das Feuer ist aus«, sagte Scott. Er atmete ein paar Mal tief durch. »Haben Sie eine Waffe?«
    Ebenezer setzte den Eimer ab und zog einen Derringer aus seiner Westentasche. »Ich weiß nicht, ob uns das hier viel nützt, aber …«
    »Kommen Sie mit. Da ist ein Wolf bei dem Russen im Zimmer. Und der ist übergeschnappt. Er unterhält sich auf Russisch mit dem Wolf. Außerdem ist da noch eine tote Frau. Kein schöner Anblick.«
    Scott und der kahlköpfige Barkeeper wagten sich langsam ins Zimmer. Ebenezer hielt die Lampe hoch. Die Vorhänge waren zugezogen, sodass kein Mondlicht eindringen konnte. Auch die Vorhänge um das Bett waren wieder zugezogen.

Weitere Kostenlose Bücher