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Wolfsruf

Titel: Wolfsruf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S.P. Somtow
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Sie fragte ihn: »Und warum sollte ich erschöpft sein, Johnny? Ich war schließlich nicht krank.«
    »Du bist wirklich komisch, Speranza. Du hast doch die ganze Nacht bei dem kranken Dienstmädchen gewacht. Das hat mir Sigmund gesagt.«
    »Sigmund?«
    Der junge Mann, der neben dem Kutscher gesessen hatte, drehte sich um und kletterte zu ihnen in die Kutsche. Er war dunkelhaarig, bärtig und wirkte sehr ernst. »Wenn Sie meine Aufdringlichkeit entschuldigen, gnädiges Fräulein, mein Name ist Freud. Ich bin ein Schüler von Dr. Szymanowski. Nächsten März erhalte ich meine Zulassung als Arzt. Sie erweisen mir eine große Ehre, wenn Sie mir gestatten, Sie zum Professor zu begleiten.«
    Speranza verunsicherte der Gentleman ein bisschen, der, obwohl er ihr direkt in die Augen blickte, zugleich ein bisschen zerstreut wirkte.
    »Ich habe gehört, Fräulein Martinique, dass Sie sich sehr
aufopfernd um das Dienstmädchen gekümmert haben; ihre Bemühungen scheinen Sie ziemlich erschöpft zu haben. Ich werde Ihnen ein Rezept für etwas Kokain besorgen; das ist eine fantastische neue Medizin, ein wahres Wundermittel für den überanstrengten Geist. Ich trage sogar ein kleines Fläschchen bei mir, sollten Sie schon jetzt etwas Stärkung brauchen.«
    »Ich hoffe, dass es besser wirkt als frische Luft … das ist die einzige Medizin, die man in England zu kennen scheint, Monsieur Freud«, sagte Speranza.
    »Es ist sehr traurig, dass das Mädchen … entschlafen ist. Sie hat keine Familie, deshalb kümmert sich der Graf persönlich um ihre Angelegenheiten. Er ist so fürsorglich zu seinen Angestellten; er scheint wirklich ein Herz für das gemeine Volk zu haben.« Speranza konnte ihm nur fassungslos zuhören und versuchen, seine Version der Geschehnisse zu begreifen, die sich so grundsätzlich von ihrer Erinnerung unterschied.
    »Sigmund war heute Morgen sehr nett zu mir. Er hat mir beim Anziehen geholfen. Ich hab ihm meinen Albtraum erzählt.« Speranza hatte Johnny noch nie so gesprächig erlebt. Es gefiel ihr, dass dieser Student ihn aus der Reserve gelockt hatte.
    »Albtraum?«, fragte Speranza.
    »Ach, du weißt doch. Der mit den Wölfen. Die durch den Zug schleichen und die Passagiere angreifen. Ich hatte solche Angst. Und da war eine Frau in einem dunklen Wald, die mich gerufen hat, an einem Fluss aus lauter Blut …«
    Sie schwieg und zog die Decken fester um sich. Der Albtraum, den der Junge beschrieb, kam ihr vertraut vor, so als hätte sie denselben Traum gehabt. Sie musste an übergroßer Erschöpfung leiden, dass sie sich nicht mehr an den vergangenen Abend erinnerte und stattdessen Visionen bekam.
    Sie bogen um eine Ecke. Sie sah ein verziertes Schild mit der Aufschrift »Spiegelgasse«. Es war nur ein Sträßchen. Auf der rechten Seite lag ein privater, eingezäunter Park mit einem
schmiedeeisernen Tor, das von Engeln verziert wurde. Der Boden war schneebedeckt, in der Mitte des Parks, zwischen den verschneiten Beeten, stand ein Brunnen mit einer Madonnenstatue. Wenigstens kam die Statue Speranza wie eine Madonna vor - nur dass sie an ihrem Busen nicht das Christuskind, sondern einen Wolfswelpen hielt, dem sie die Brust gab.
    »Diese Statue ist …«, setzte sie an.
    »Faszinierend, nicht wahr?«, beendete Freud ihren Satz. »Man sagt, das Gesicht sei jenem der verstorbenen Gräfin von Bächl-Wölfling nachempfunden, die vor einigen Jahren auf grausame Weise ermordet wurde. Die Skulptur ist so ein Avantgarde-Kunstwerk … von einem Schüler Arturo Maranos … offenbar eine Umkehrung der berühmten Figurengruppe von Romulus und Remus, den Gründern Roms, die von einer Wölfin gesäugt wurden. Ein bisschen blasphemisch, würden manche dazu sagen. Aber wir sind hier in Wien, und Dekadenz ist, sagen wir, de rigueur .«
    Links führten zwei Treppen hinauf zu einer Tür in der Barockfassade des Gebäudes. Auf der Straße wartete eine lange Reihe von Kutschen. Manche waren ganz gewöhnliche Bahnhofskutschen; andere waren private Wagen und mit den verschiedensten Emblemen und Insignien verziert. Eine importierte American Concord trug von Bächl-Wölflings Wappen. Aus den Kutschen stiegen Menschen, die von uniformierten Lakaien die Treppe hinauf eskortiert wurden. Die Luft war neblig vom dampfenden Pferdeatem, und es roch nach Dung; zwei kräftige Burschen räumten die Pferdeäpfel vom Pflaster und unterhielten sich dabei in einem slawischen Dialekt.
    »Wohnt hier Dr. Szymanowski?«, fragte Speranza.
    »Nein, nein!«,

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