Wolfsruf
mitkommen … natürlich nicht. Ein ausländischer Gentleman. Und Scott, vielleicht solltest du auch hierbleiben und dich um ihn kümmern … und um die Dame oben.«
Der Lieutenant nickte. Vishnevsky hatte den Eindruck, dass es dem jungen Mann gar nicht unlieb war, zurückzubleiben. Obwohl er versuchte, es zu verbergen, stand Angst in seinen Augen - mehr Angst, als ein wildes Tier in einem erfahrenen Soldaten hervorrufen sollte, dachte Vishnevsky. Er fragte sich, ob Harper irgendwie die Wahrheit ahnte - aber nein, wie hätte er das können? Ich lasse mich von diesen Leuten zu sehr einschüchtern, dachte er. Diese Männer haben nichts Übernatürliches an sich.
Das Heulen war wieder zu hören, diesmal näher. Es war
ein Wolf; jetzt war er ganz sicher. Aber der Schrei war seltsam schwach, dachte er. Natalias Heulen ist wie der Kriegsruf einer Jägerin, wütend und aggressiv. Vielleicht ist es ja ein echter Wolf, bloß ein dummes Tier, getrieben von seinem Hunger und der Sehnsucht nach Wärme - ein Wesen ohne Seele. Dieses Land ist voller Wölfe, überlegte Vishnevsky und fühlte sich ein bisschen besser.
Pferde wieherten. Stiefel trampelten über die Veranda draußen; ein paar Schüsse waren zu hören. Männer riefen, und der Wind jaulte.
Er setzte sich wieder und nahm noch einen Schluck Whisky. Im Raum war niemand mehr außer Scott und dem Barkeeper.
Er und der Lieutenant sahen sich an. Scott Harper lächelte ihm zu, ein freundliches, zuversichtliches Lächeln. Vishnevsky senkte den Blick. »Wenn Sie mich für einen Augenblick entschuldigen«, sagte er. »Ich sollte nach meiner Cousine sehen. Sie fürchtet sich sehr vor Wölfen.«
Dann stand er vom Tisch auf und eilte die Treppe hinauf.
Verna Smith klopfte vorsichtig an die Tür. Als niemand antwortete, drehte sie den Türknauf und trat ein.
Es war dunkel, entsetzlich dunkel. »Ich bin da«, sagte sie leise und hielt die Kerze hoch. Am anderen Ende des Raumes stand ein Himmelbett. Die Vorhänge waren, ebenso wie die vor dem Fenster, zugezogen. Dieser Cordwainer Claggart liebte mysteriöse Spielchen.
Als Erstes fiel ihr der Geruch auf - wie der Geruch einer Frau in ihrer Regel, aber viel stärker. Sie musste beinahe würgen. Hier ist noch eine Frau im Raum, dachte sie. Eine Frau, die so schamlos war, einem Mann Freuden zu spenden, während sie …, welche Hure konnte so tief sinken?
»Ich weiß, dass du in dem Bett bist, Claggart«, sagte sie. »Du falscher Hund.«
Neben dem Bett stand ein Nachttisch. Sie stellte die Kerze
darauf ab. Daneben befanden sich eine Waschschüssel und eine Kristallkaraffe mit Wasser. Ein Spiegel, eine Bürste, ein Schlüssel und zwei Patronen - Patronen, die im Kerzenlicht schimmerten. Sie mussten aus Silber sein.
»Willst du gleich wie ein brünstiges Tier aus dem Bett rausspringen und dich auf mich stürzen?«, lachte sie.
Etwas bewegte sich hinter den Vorhängen. Aber niemand sprach.
»Komm endlich«, sagte sie. »Du treibst das Spiel zu weit. Eines Tages …«
Keine Antwort. »Möchtest du vielleicht, dass ich alle meine Kleider ausziehe?«, fragte sie, um ihn zu provozieren. Schon bei dem Gedanken lief ihr ein wollüstiger Schauer über den Rücken.
Selbst ein schlecht erzogener Mann würde es nicht im Traum wagen, eine Frau dazu zu bringen, dass sie all ihre Kleider auszog. Ganz zu schweigen davon, dass er sich selbst vollkommen auszog. Aber Verna wusste, wie es war, sich nackt zu lieben. Ein Komantsche hatte sie das gelehrt. Die Indianer kannten keine Scham. Sie hatte gehört, dass sich auch die Neger nackt liebten. Es hat auch seine Nachteile, zu einem zivilisierten Volk zu gehören, urteilte sie mit einem Seufzer.
Ein tiefes Stöhnen kam aus dem Bett.
»Ich wusste, dass du mir darauf antworten würdest«, lachte sie.
Sie nahm die Kerze in eine Hand und zog mit der anderen die Vorhänge zurück. Und schnappte nach Luft.
Der Geruch war noch stärker geworden. Eine Frau war an die Bettpfosten gekettet. Sie war nackt. Obwohl es kühl im Zimmer war, war die Frau schweißgebadet. Sie stöhnte wieder und starrte Verna aus schmalen Augen an. »Hilfe …«, sagte sie. »Bitte … der Schlüssel …« Waren das Worte oder war es das Knurren eines hungrigen Tieres? Verna konnte sie kaum verstehen.
»Mein Gott, hat Claggart Ihnen das angetan?«
»Bitte, der Schlüssel …« In der fast vollkommenen Dunkelheit glitzerten die Augen der Frau wie die eines Nachttiers. »Mir bleibt nicht viel Zeit … ich verbrenne …«
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