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Wolfsruf

Titel: Wolfsruf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S.P. Somtow
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- auf seine Nase - seine Lippen schmeckten Blut. Sie taumelte zurück, deutete hysterisch zappelnd auf etwas. Sie wollte schreien, aber kein Laut kam über ihre Lippen.
    Er wirbelte herum und sah, was vom Fenster heruntergefallen war -
    Und nahm sie in die Arme, versteckte ihren Kopf unter seinem Mantel, denn es geziemte sich nicht für eine Dame, so etwas anzuschauen -
    Es war ein menschlicher Kopf.
    Er hielt die Witwe in seinen Armen. Als er aufsah, sah er den Rumpf einer nackten Frau im Fenster. Blut spritzte aus ihrem abgetrennten Hals. Das also war ihm aufs Gesicht getropft. Das Blut gehörte der selbst ernannten deutschen Opernsängerin. Ihr Gesicht starrte ihn vom Boden mit einem Ausdruck blanken Entsetzens an. Von oben hörte er das Heulen eines wilden Tieres - eines Wolfes! Er hatte verdammtes Glück gehabt, dass
er sein Rendezvous mit der glücklosen Miss Nachtigal abgesagt hatte - oder Miss Smith oder Miss Trestail oder wie immer sie diese Woche heißen mochte. Ich bin einem Monster entkommen, dachte er, und habe eine Goldgrube entdeckt.
    Blut durchtränkte den Schnee, zog ein feines Spinnennetzmuster um den abgetrennten Hals. Die Lippen der Sängerin waren geteilt. Auch recht, dachte er, dann bleibt uns wenigstens das Gejaule dieser verfluchten billigen Hure erspart.
    Claggart hatte schon mehr verstümmelte Leichen gesehen. Er hatte die Überreste des Indianer-Massakers in Minnesota gesehen. Sein Magen krampfte sich beim Anblick von Amelia Nachtigals Kopf nicht zusammen, und er musste sich auch nicht von dem Anblick des Rumpfes in dem Fenster abwenden. Stattdessen wandte er seine Aufmerksamkeit wieder der Frau zu, die in seinen Armen zitterte. »Ich liebe dich«, offenbarte er ihr besänftigend, als würde er zu einem Welpen sprechen, »ganz ehrlich.«
     
    Scott hörte den Russen oben herumstolpern. Ich sollte ihm helfen, dachte er.
    Die Treppe war steil, und der Gang lag im Dunkel. Unter den Rissen in den Tapeten zeigten sich frühere Farbschichten, einst schreiend bunt, jetzt aber staubgrau. Ein ekliger Gestank lag in der Luft - wie von einer läufigen Hündin - und der Geruch von Pisse. Scott sah, dass der Russe in einer Tür stand. Er schaute hinein und sagte etwas in seiner Muttersprache. Er hörte sich an, als würde er ein wildes Tier beruhigen wollen. Scott trat neben ihn.
    »Nein!«, flüsterte Vishnevsky ihm ängstlich zu. »Sie müssen sie mir überlassen, mir ganz allein.«
    Scott blickte an der Gestalt des Russen vorbei ins Zimmer. Es war in helles Mondlicht getaucht. Der kopflose Rumpf einer nackten Frau lehnte an dem Fensterbrett. Das Fenster war offen, und Rücken und Gesäß waren mit Kratzern überzogen.
Klumpen gerinnenden Blutes glänzten im Mondlicht wie schwarzer Lack. Hier war der Geruch noch stärker. Aber es roch noch nicht nach Verwesung. Nur nach warmem Blut - und nach scharfer Hundepisse.
    Scott wusste nicht, wer die Frau war. Vielleicht eines der Mädchen, die ihre Dienste draußen auf der Straße anboten. Ganz bestimmt war es nicht Natalia Petrowna. Eine edle Dame wie sie würde niemals ihre Kleider ausziehen.
    Er zog seinen Colt.
    Der Russe bewegte sich nicht, sondern sprach leise weiter.
    »Mit wem reden Sie?«, fragte Scott. »Mit Ihrer Cousine? Versteckt sie sich irgendwo? Unter dem Bett? Ist sie in Gefahr?« Er wollte noch mehr sagen, als er das Knurren hörte.
    Etwas bewegte sich. Unter der Bettdecke. In Panik schoss Scott darauf. Gänsefedern wirbelten auf. Wieder das Knurren. Aus dem Schrank. Hinter dem Nachttisch hervor. Schatten, Schatten, wohin die Mondstrahlen nicht fielen.
    »Schießen Sie nicht auf sie!« Vishnevsky betrat das Zimmer, und Scott folgte ihm. Die Dielenbretter knarrten unter ihren Stiefeln. »Ich flehe Sie an. Sie ist nicht immer ein Tier.« Auf Zehenspitzen arbeitete er sich zum Nachttisch vor und tastete nach etwas. Als er sich umdrehte, sah Scott, was er in der Hand hielt - zwei Patronen.
    Die Patronen glänzten seltsam hell.
    »Natalia«, sagte der Russe und lud seine Pistole. Scott sah, dass Tränen in seinen Augen standen.
    Der Wolf machte einen Satz hinter dem Bett hervor. Vishnevsky blieb keine Zeit zu reagieren. Er feuerte einmal, ohne zu zielen, fluchte auf Russisch. Der Wolf sprang ihn an, als wollte er ihn umarmen. Die Waffe wurde ihm aus der Hand geschlagen, rutschte zur Tür hinüber. Scott feuerte immer weiter. Keine Kugeln mehr. Er fiel auf die Knie und tastete nach der Pistole des Russen. Wo war der Wolf? Er hob die Waffe auf. Er

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