Wolfsruf
Sie sprach mit einem seltsamen europäischen Akzent, den Verna nicht einordnen konnte. Warum war sie angekettet? Ausländer taten manchmal so merkwürdige Dinge. Und was lag da um ihr Gesicht - ein Pelzschal? Nein, der Pelz schien auf ihren verschwitzten Wangen zu kleben.
»Mach mich los!« Keine Worte, sondern das Brüllen eines Tieres.
»Soll ich Ihnen Wasser holen?« Verna warf einen Blick auf den Waschtisch.
»Nein … der Schlüssel … mach mich los!«
»Natürlich, natürlich!« Zitternd nahm sie den Schlüssel vom Nachttisch. Herr im Himmel, die Handgelenke der Frau waren voller Blasen und Schwären. Verna löste die Fesseln, und während sie das tat, packte die Frau ihre Handgelenke so fest, dass Verna aufschrie. Der Gestank schlug in ihr Gesicht - hinter dem Menstruationsgeruch war noch ein anderer, ein noch widerwärtigerer Gestank. Es ist Hundepisse, dachte Verna, natürlich, Hundepisse.
Die Frau stöhnte - sie zog Verna an sich, fasste sie an den Schultern, zerriss dabei das Gewebe ihres Morgenmantels. »Die Hitze, die Hitze«, ächzte sie. »Bitte hilf mir, bitte, halt mich, berühr mich … der Schmerz …«
Zu ihrer Verblüffung begriff Verna, dass diese Frau mit ihr schlafen wollte. Und trotz des überwältigenden Gestanks hatte sie etwas unwiderstehlich Erotisches an sich. Sie bebte, sie zitterte, und ihre Arme und Brüste glänzten vor Schweiß. Und immer diese brennenden Augen. Verna konnte einfach nicht wegsehen. Die Frau zerrte sie aufs Bett, war plötzlich über ihr. Der Morgenrock war in Fetzen, ihre Fingernägel zerkratzten ihr die Haut bis aufs Blut, und Verna schrie auf - wieder stöhnte die
Frau: »Die Hitze, die Hitze, du musst aufmachen die Vorhänge und das Fenster … hilf mir, hilf mir, ich verbrenne …«
»Sind Sie krank? Soll ich den Arzt holen?«
»Die Hitze …«
Verna erklärte: »Lassen Sie mich los, dann öffne ich das Fenster.« Aber die Frau hielt sie noch fester, fester, presste sie auf das Satinlaken hinab. Die Kette lag immer noch auf dem Bett. Sie drückte in Vernas Rücken, und Verna rollte zur Seite, sodass die Kette die Brüste der fremden Frau berührte. Plötzlich ließ die Frau sie los, schrie, und Verna sah die tiefe Wunde auf ihrer Brust, sie sah das Blut brodeln. Die Frau wand sich jetzt, zäher Speichel tropfte von ihren Lippen - ganz bestimmt war sie krank und wurde von ihrem Schmerz in den Wahnsinn getrieben.
Verna befreite sich und ging rückwärts zum Fenster, bis sie die Vorhänge ertasten konnte. Sie zog sie zurück und öffnete das Fenster. Dann drehte sie sich um und schaute in den Hof hinunter. Cordwainer Claggart stand dort - und machte dieser Witwe den Hof! Dieser schamlose Kerl! Sie war so wütend, dass sie die bittere Kälte ein paar Sekunden lang gar nicht bemerkte.
Mondlicht fiel in den Raum. Der Wind pfiff, und die Kälte peitschte ihren halb nackten Körper. Schneeflocken landeten auf ihrem Haar und ihren Wimpern. Sie drehte sich wieder um und sagte zu der kranken Frau: »So, jetzt müssen Sie zurück ins Bett, Sie müssen versuchen, sich auszuruhen.«
In der Ferne hörte sie Schüsse. Und das Heulen eines Tieres - vielleicht das eines Wolfes.
Der Geruch hatte sich noch verstärkt. Sie konnte kaum mehr atmen. Es war definitiv Hundepisse, und Monatsblut. Von weither, vielleicht aus dem Chinesenviertel, hörte sie wieder einen Wolf heulen. Und dann kam die Antwort.
Es stieg aus der Kehle der Verrückten auf. Sie heulte ebenfalls, wie ein wilder Hund, und während sie heulte, verwandelte
sie sich. Ihre Nase verzerrte sich zu einer Schnauze, ihr Mund weitete sich zu einem riesigen Rachen, und auf ihren Zähnen glänzte der Geifer.
Verna blieb nicht einmal Zeit zu schreien, als die Bestie sie ansprang. Sie sah noch, wie die Tür aufschwang, der Russe in den Raum stürzte und etwas in seiner Muttersprache brüllte. Sie versuchte, ihn zu warnen, ihn aufzuhalten, aber sie wusste, dass es schon zu spät war.
Die Witwe und der Schlangenöl-Händler hielten sich bei der Hand und schauten einander in die Augen. Claggart dachte sich gerade, ich empfinde tatsächlich etwas für sie, verdammt! Und er beugte sich hinunter, um sie zu küssen. Weit weg heulte ein Tier, und ein anderes Tier antwortete ihm aus dem Haus.
Er hörte, wie hinter ihm etwas in den Schnee plumpste.
Sally Bryants Augen waren weit aufgerissen. Plötzlich wurde ihm klar, dass es ein Ausdruck des Entsetzens, nicht des Verlangens war. Etwas Nasses tropfte auf seine Stirn
Weitere Kostenlose Bücher