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Wolfsruf

Titel: Wolfsruf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S.P. Somtow
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Nur eine schwache Erinnerung an den entsetzlichen Gestank lag noch in der Luft.
    Vishnevsky stand beim Fenster. Der kopflose Rumpf lag ihm zu Füßen, auf dem Rücken, in einer Blutlache.
    »Amelia!«, sagte Ebenezer. »O nein!« Er starrte auf den Körper, ohne zu verstehen.
    Scott fühlte sich einen Augenblick erleichtert, weil es nicht die Leiche der Russin war - aber dann fühlte er sich deswegen schuldig und blickte zu Boden, um niemandem in die Augen sehen zu müssen.
    »Der Wolf ist weg«, erklärte ihnen Vishnevsky. »Aus dem Fenster gesprungen.«
    »Komisch«, sagte Scott. »Ich hab gar nichts gehört.« Dann kam eine andere Stimme hinter den Bettvorhängen hervor. »Er hat recht, Lieutenant Harper. Ich habe es mit eigenen Augen gesehen, ein furchtbarer Anblick. Eine riesige Kreatur, die mich anspringen wollte … entsetzlich, entsetzlich.«

    Eine weiße Hand mit schlanken Fingern teilte den Vorhang ein bisschen, dann sah Scott Natalia Petrowna hervortreten. Sie trug einen seidenen Morgenrock, und sie hatte einen Schal um ihr Gesicht gewunden, der ihren Mund und ihre Wangen verbarg. Aber die Augen waren unverkennbar. »Gott sei Dank leben Sie noch, Madam. Ich fürchtete schon, Ihnen sei etwas Grauenhaftes zugestoßen, und das hätte mich mehr geschmerzt als alles auf der Welt.«
    »Wie galant Sie sind, Lieutenant!« Sie lächelte ihn mit den Augen an, aber der Schal blieb fest über ihrem Mund. »Ich kenne Sie kaum, und schon Sie brechen mein Herz.«
    »Wo hatten Sie sich versteckt?«, fragte er. Er wollte zu ihr gehen, sie trösten, vielleicht einen Arm um sie legen. Aber er war zu schüchtern, weil er genau wusste, dass er sie begehrte.
    »Ich habe mich … versteckt hinter Vorhängen. Oh, ich hatte solche Angst. Ich habe mich nicht einmal getraut zu schreien. Sie haben mich gerettet vor diesem furchtbaren Untier.«
    »Aber … ich habe Sie überhaupt nicht bemerkt, Madam. Sie dürften nicht einmal geatmet haben.«
    »Manchmal bin ich selbst fast wie Tier und kann mit der Dunkelheit vollkommen verschmelzen.«
    »Sie brauchen keine Angst zu haben, Natalia Petrowna. Morgen hat uns Mr Grumiaux auf eine Fahrt mit seiner Eisenbahn eingeladen. Es wäre mir ganz bestimmt eine Ehre, wenn ich Ihnen dabei meinen Schutz anbieten dürfte.«
    »Vous êtes trop gentil, cher monsieur.« Sie nickte ihm freundlich zu. Dann schaute sie ihren Cousin an und sprach mit ihm auf Russisch. Ihr Tonfall war grob, auch wenn Scott ihre Worte nicht verstand. Und ihre Augen brannten so intensiv vor Zorn, dass sie vollkommen verändert wirkte.
    Vishnevsky murmelte etwas, das wie eine Entschuldigung klang.
    Scott wollte gerade etwas sagen, als sie Stimmen von unten hörten. Die Jäger waren zurückgekehrt. Sie konnten Zekes
Stimme hören, der verkündete: »Wir haben den Mistkerl in Stücke geblasen! Aber die Ohren und den Schwanz haben wir …«
    Ebenezer sagte: »Na, sieht so aus, als würde dieses Biest uns keine Schwierigkeiten mehr machen.«
    »Wohl nicht«, bestätigte Scott.
    Aber er bemerkte, dass Vishnevsky nichts darauf erwiderte und dass in seiner Stimme, als er wieder mit seiner Cousine sprach, trotz seiner offenkundigen Höflichkeit eine Spur von Abneigung, vielleicht sogar Hass mitschwang.

10
    Wien
    Vollmond
     
    Speranza schlief nicht in dieser Nacht. Sie hielt das Kind fest an ihren Busen gedrückt, bis es sich in den Schlaf geweint hatte. Niemand kam, um die blutigen Überreste des Dienstmädchens zu beseitigen. Der kleine Johnny zitterte in ihren Armen, und hinter dem Geratter des Zuges und dem Pfeifen des Windes, der durch das zerbrochene Fenster hereinwehte, konnte sie ein leises, klagendes Heulen aus von Bächl-Wölflings Waggon vernehmen. Sie wagte nicht, die Augen zu schließen, bis der Mond hinter den schneebedeckten Bergen untergegangen war.
    Es war kalt, betäubend kalt; aber von dem Körper des Jungen stieg fieberhafte Hitze auf, und von Zeit zu Zeit erschien er ihr anders, so als würden seine Arme in einem seltsamen Winkel abstehen, als wäre seine Nase eigenartig verzerrt, als wären seine Wangen mit silbernem Flaum überzogen. Jedes Mal, wenn sie das Gefühl hatte, er hätte sich verwandelt, wandte sie mit klopfendem Herzen den Blick ab; aber sobald sie ihn wieder ansah, war er wieder nur ein kleines Kind. Und sie dachte:
Ich bin verrückt, ich bilde mir das alles nur ein. Doch so sehr sie sich auch konzentrierte, es gelang ihr nicht, den verstümmelten Leichnam auf dem gegenüberliegenden Sitz

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