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Wolfsruf

Titel: Wolfsruf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S.P. Somtow
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fortzuzaubern. Speranza wandte ihren Kopf von dem Kadaver ab und schaute aus dem geborstenen Fenster, hoffte, dass der kalte Wind endlich den Gestank nach warmem Blut und geplatzten Gedärmen vertreiben würde.
    »Es gibt keine Ungeheuer«, hämmerte sie sich flüsternd ein, »nur Albträume.«
     
    In der Morgendämmerung fiel sie in Schlaf. Und träumte.
    Es war ein Wald. Sie lief unter den dichten Bäumen. Sie trug kein Korsett, keine beengenden Kleider. Ihr Haar war lang und flog im heißen Wind. Sie war nackt, aber sie fühlte keine Schuld, weil die Dunkelheit sie einhüllte. Die Luft roch nach der Blutung einer Frau. Sie war barfuß. Sie spürte den weichen Boden. Feuchte Blätter klebten an ihren Sohlen. Zweige zerkratzten ihre Arme, ihre Schenkel, aber der Schmerz war nicht unangenehm, war wie der Schmerz einer lüsternen Leidenschaft. Würmer krabbelten über ihre Zehen und kitzelten sie. Sie lachte, und ihr Lachen verwandelte sich in das Heulen eines wilden Tieres.
    Eine Erinnerung tauchte kurz auf: Sie half dem jungen Michael Bridgewater einmal bei der Übersetzung von Euripides, bis sie an Stellen gelangten, die sie einfach nicht richtig übersetzen konnte - wenigstens nicht ins Englische, denn in dieser Sprache hörte sich alles, was auf Italienisch oder Französisch erhaben klang, unerträglich grob an. Auch die raue Lüsternheit der Engländer, hatte sie damals überlegt, rührte von dieser Grobheit her. Und dann hatten sie den kleinen Michael in die Erde gesenkt, und seitdem hatte es nicht mehr aufgehört zu schneien, schien sie dem Schnee nie mehr zu entkommen, nicht einmal, wenn sie quer durch halb Europa floh -
    Hier gab es keinen Schnee.

    Überhaupt keinen Schnee. Feuchtigkeit tropfte von den Ästen über ihr, perlte aus der Erde, kondensierte aus der Luft selbst. Der Boden war matschig. Sie glitt, rutschte fast, schrie in beinahe kindischer Freude auf, als die Erde selbst sie weiterzutragen schien.
    Licht brach durch die schwarzen und silbernen Blätter. Mondlicht über einem Fluss. Sie saß am Ufer, badete ihre Füße. Das Wasser war warm wie frisches Blut - der Boden pulsierte leicht, regelmäßig wie ein Herzschlag -, sie hörte den Ruf eines Wolfes, weit entfernt und traurig. Der Klang war abstoßend und anziehend zugleich. Sie ahnte, dass es ein Liebeslied war, aber sie verstand seine Sprache nicht -
    Und in ihrem Traum wusste sie, dass das Heulen von der Quelle kam. Das Tier wartete flussaufwärts auf sie. Und sie wurde von dem Tier angezogen, wie es auch von ihr angezogen wurde -
     
    Sie hörte Hufgetrappel auf Pflastersteinen. Sie öffnete die Augen. Der Junge zupfte an ihrer Hand: »Speranza, Speranza, wach auf! Du hast so lang geschlafen.«
    Sie setzte sich auf. Sie saßen in einer offenen Kutsche. Der Himmel war bedeckt. Es schneite kaum mehr, nur ein paar Flocken ab und zu. Johnny Kindred saß neben ihr; jemand hatte ihn angezogen. Er lächelte sie schüchtern an.
    »Sind wir schon in Wien?«, fragte sie.
    »Ja, Speranza. Die Männer des Grafen haben dich rausgehoben und neben mich in die Kutsche gesetzt. Sie sind sehr stark.«
    Sie sah sich um. Man hatte sie in mehrere Decken gehüllt; ganz offenbar war es ihnen peinlich gewesen, sie anzukleiden. Die Straße war schmal, und alle paar Meter lagen große Schneehaufen. Auf beiden Seiten gab es Läden. Die Schilder waren deutsch beschriftet. Es roch leicht nach Kaffee und Muskat, und als sie um die Ecke bogen, entdeckte sie ein kleines Caféhaus mit der Aufschrift »Schildkröte« im Fenster.

    Sie schaute den Jungen an. Das Blut war von seinem Gesicht gewaschen worden, und sein Haar war korrekt gekämmt. Er lächelte wieder. »Gestern Nacht war ganz schön was los, nicht wahr?«, fragte er. »Jemand hat mir erzählt, dass ein Dienstmädchen … krank geworden ist, und es gab eine große Aufregung. Kein Wunder, dass du so müde bist, Speranza. Du hast geschlafen und geschlafen. Ich habe dich so vermisst. War es sehr furchtbar, als du sie gesehen hast, ich meine … als sie …«
    »Natürlich.« Konnte er alles, was geschehen war, schon wieder vergessen haben? Habe ich mir etwa nur eingebildet, dass der Junge zwischen all den blutigen Innereien lag, dass sich der Graf während seiner romantischen Annäherungsversuche plötzlich verwandelte? Sie überlegte fieberhaft. Ihre Erinnerungen verschwammen bereits wieder, und der Traum mit dem Fluss und dem Wald und dem fernen Wolf schien viel lebendiger als das, was sie gestern erlebt hatte.

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