Wolfsruf
öffnete den Koffer und zog die Sachen einzeln heraus. All jene, die Silber enthielten, legte sie auf den Tisch. Die anderen warf sie wieder zurück.
Es war nicht viel: Die Haarbürste hatte einen silbernen Griff, sie besaß einen Brieföffner, der so wirkte, als wäre er ebenfalls aus Silber, und dann war da noch ein kleiner Spiegel, dessen Griff dem der Bürste ähnelte. Und sie besaß ein paar silberne Schmuckstücke außer der Kette, die ihr, wenn auch nicht die Ehre, so doch das Leben gerettet hatte.
Sie betrachtete die Gegenstände eine Weile. Was ist mit mir passiert?, dachte sie. Ich war eine moderne, rationale Frau, und jetzt benehme ich mich wie ein Kräuterweib im Mittelalter. Aber diese Sache ist kein Traum. Vielleicht ist es eine Krankheit, ein Wahn, der so extrem ist, dass er sich nicht nur auf den Geist, sondern auch auf die äußere Gestalt auswirkt, vielleicht ist es ein Gift im Blut, das der kleine Johnny geerbt hat. Aber es kann nicht unheilbar sein. Ich habe gesehen, wie der Junge ihm widerstanden hat, darum muss auch ich widerstehen, um seinetwillen.
Das klingt alles wie eine Altweibergeschichte, wie ein dummer Aberglauben, sagte sie sich. Aber ich kann die Wahrheit nicht herausfiltern. Also muss ich mir mit dem Silber behelfen, nur um sicherzugehen.
Sie stand auf, klemmte die Sachen unter ihren Arm und überlegte sich, auf welche Weise man in ihr Zimmer eindringen könnte. Sie stellte einen Stuhl vor die Tür und platzierte den Spiegel darauf. Sie nahm vier Schmuckstücke und legte sie an den Ecken ihres Bettes auf den Boden. Es gab nur ein Fenster - das neben dem Frisiertisch -, sie legte die Bürste auf das Fensterbrett. Den Brieföffner beschloss sie bei sich zu tragen, an ihrem Busen, wenn sie wieder zum Grafen gerufen wurde.
Sie setzte sich hin. Es begann zu schneien; die Madonna war fast nicht mehr zu sehen. Von unten drang Geheul herauf: Doch diesmal war es nicht das kakophone Durcheinander von vorhin, sondern es schien gewissen Regeln zu folgen. Erst kam ein einzelner, lang gehaltener Ton mit fast metallischem Klang. Eine zweite Stimme fiel ein, in einer anderen Tonhöhe, so dissonant
zu der ersten, dass es ihr kalt den Rücken hinunterlief, dann folgten eine dritte und vierte Stimme, die beide ihren eigenen Ton zu der Disharmonie hinzufügten. Das Fenster klirrte. Wie hielten es die Diener in einer solchen Umgebung nur aus? Beschützte sie das Brandzeichen wirklich? Das Mädchen im Zug hatte es jedenfalls nicht beschützt, aber andererseits konnte der kleine Johnny auch nicht wissen - nicht der kleine Johnny, das ahnungslose Tier.
Das Heulen wuchs an. Der Boden bebte unter ihren Füßen. Der Stuhl, auf dem sie saß, begann zu wackeln. Und plötzlich war es vorbei. Sie hörte ein Schlagen, dann preschten die Wölfe hinaus auf die Straße. Schweigend trotteten sie an den geparkten Kutschen vorbei. Sie war froh, dass man die Pferde nicht draußen gelassen hatte.
Von der Kraft des Heulens her hätte man sie auf Hunderte schätzen können, aber nun sah sie, dass es höchstens zwanzig waren. Die Tiere verharrten ein paar Sekunden lang vollkommen regungslos mitten auf der Straße; nur der Atem stieg in dicken Wolken von ihren Schnauzen auf. Schnee bestäubte ihre Pelze. Das Fell des Leitwolfs war schwarz mit silbernen Strähnen, wie das Haar des Grafen, neben ihm stand ein junger Welpe, derselbe, den sie aus dem Umhang des Grafen hatte springen sehen, und hinter ihnen folgten andere Wölfe. Sogar hier oben konnte sie ihre Augen glühen sehen. Der Mond stand noch tief, und die Wölfe warfen lange Schatten durch das schmiedeeiserne Tor des Parks. Der Leitwolf schüttelte den Schnee aus seinem Fell und schaute von einer Seite zur anderen. Dann setzten sie sich in Bewegung. Gleichzeitig, fast graziös, als wären sie ein Ganzes. Ein kurzes Wuffen von dem Rudelführer, dann trabten sie die Spiegelgasse hinunter. Fast lautlos, denn der tiefe Schnee verschluckte das Geräusch ihrer Pfoten. An der Ecke bogen die Wölfe ab und verschwanden hinter einer Steinmauer.
Sie wartete. Aber irgendwann überfiel sie eine unwiderstehliche
Müdigkeit, und sie ging zu Bett. Sie fiel in einen erholsamen Schlaf, denn sie träumte vom Wald, vom Fluss und von einem wölfischen Liebhaber, der an der Quelle auf sie wartete.
Der Welpe schnüffelte die kalte Luft und schüttelte den Schnee aus seinem Pelz. Endlich hatte er seine Seele besänftigt, endlich durfte er das sein, was ihm bestimmt war: stolz, wild,
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