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Wolfsruf

Titel: Wolfsruf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S.P. Somtow
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eins mit der Dunkelheit. Zuerst war er noch unsicher auf seinen Beinen. Aber er imitierte die Bewegungen seines Vaters und übernahm bald dessen flüssigen Laufrhythmus.
    Die Wölfe liefen schweigend dahin. Ab und zu hielt der Vater des Welpen inne, um sein Revier zu markieren, hob arrogant sein Bein, um an eine einprägsame Stelle zu urinieren: einen Stein, eine Ziegelmauer, ein Wagenrad. Sie verständigten sich in der Sprache der Dunkelheit, manchmal mit einem kurzen Winseln oder einem Wuffen, meistens nur mit einer kurzen Kopfbewegung, dem Zittern der Nüstern oder einem schnellen Blick.
    »Mein Sohn«, sagte der Leitwolf mit seinen Augen, als sie im Schatten einer weiteren Gasse verschwanden. »Mein Sohn. Wie froh macht es mich, dass ich dich gefunden habe … und dass du wahrhaftig einer der unseren bist, dich verwandeln kannst …«
    »Warum hast du mich nicht früher zu dir geholt?«, begehrte der Welpe mit einem Zucken und einer kreisenden Pfotenbewegung auf.
    »Weil«, sagte sein Vater und peitschte den Schnee mit seinem Schweif, »ich Furcht davor hatte. Deine Mutter war keine von uns.«
    »Meine Mutter …«
    Noch eine andere Stimme war im Geist des Wölflings, eine Stimme, die zu schreien schien: Nein, ich bin keiner von euch - ich bin ein Kind, ein Mensch.
    Wem gehörte diese innere Stimme? Der junge Wolf folgte
seinem Vater, schneller jetzt, von einem Schatten zum nächsten. Die Stimme irritierte ihn. Sie gehörte nicht hierher. Jetzt war alles im Einklang. Es war richtig, geduckt über dem Boden zu laufen und in die Luft zu wittern. Die Luft lebte: Er roch das Blut der fernen Beute, das pulsierte, den nahen Tod ahnte. Die innere Stimme sprach wieder zu ihm, sagte: Das Bild ist blass, grau, farblos, aber der Welpe verstand den Sinn dieser Worte nicht, denn seine Augen kannten keine Farbe, nur unendlich viele Abstufungen von Licht und Schatten. Und die innere Stimme schien nicht zu begreifen, wie reich die Welt der Geräusche und Gerüche war, die er wahrnahm; sie beschwerte sich immer nur darüber, dass ihr das fehlte, was er Farbe nannte.
    Er zwang die Stimme tiefer in sein Inneres zurück. Sie war nutzlos, ein Überbleibsel aus einem anderen Leben. Er folgte seinem Vater. Das Rudel hatte sich getrennt. Sie waren nur noch zu zweit, jagten als Vater und Sohn.
    Jagen! Sein Magen brannte vor Verlangen. Nicht nur nach frischem, warmem Fleisch, sondern auch nach dem Akt des Tötens -
    Unvermittelt blieb sein Vater stehen und hob den Kopf. Der Wind hatte sich gelegt. Der Schnee fiel jetzt senkrecht herab. Schritte, menschliche Schritte. Er roch Blut: träges Blut, vermischt mit dem sauren Duft von Wein. »Komm, mein Sohn«, befahl sein Vater mit einem herrischen Bellen. »Du und ich, wir werden zusammen das Mysterium von Leben und Tod feiern. Die Beute ist nah.«
    Er antwortete nicht. Sie bewegten sich nicht. Der Geruch wurde stärker. Der Geruch besaß eine Gestalt, eine zweibeinige Gestalt. Der Welpe verharrte neben seinem Vater, angespannt, wartend. Eine zweite Gestalt neben der ersten, viel kleiner. Was machten sie in der Kälte, im Dunkel? Sein Vater knurrte - ein leises, dumpfes Geräusch wie ein fernes Erdbeben.
    Der Schnee fiel nicht mehr so dicht, und der junge Wolf konnte mehr erkennen. Die Beute war auf den Stufen vor einem
hohen Haus. Es waren eine Frau und ein Kind, das vielleicht vier oder fünf Jahre alt war. Eine halb leere Flasche lag neben ihnen. Im Schnee hatte sich eine kleine Weinpfütze gebildet. Die beiden zitterten und kauerten sich unter einem Männermantel aneinander.
    Die Frau murmelte vor sich hin und wiegte das Kind hin und her. Sie trug einen Schal, unter dem graue Haarsträhnen hervorlugten. Ihr Gesicht war abgespannt und verhärmt. Das Kind war müde, döste vor sich hin. Er konnte das Geschlecht des Kindes nicht erkennen; es war zu jung.
    »Es sind Straßenmenschen«, sagte der Vater. »Sie haben sich vom Haus weggewagt. Sie suchen die Einsamkeit, die Kälte und das Dunkel. Sie gehören uns.«
    Und hetzte die Stufen hinauf, mit weit klaffendem Rachen. Sein Sohn folgte dichtauf.
    Zuerst schien die Frau sie nicht einmal zu bemerken. Der Wolf umkreiste sie mehrere Male. Dann schlug er zu.
    Sie ließ das Kind fallen. Es begann zu weinen. Seine hageren Schultern zeichneten sich unter dem zerrissenen Nachthemd ab. Es wollte wieder zu ihr hinaufklettern. Die Weinflasche rollte die Treppe hinunter, klirrte bei jeder Stufe. Der junge Wolf beobachtete seinen Vater und die Frau. Ein

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