Wolfsruf
verlor seinen Geruchssinn -, die Formen änderten sich ebenfalls, wurden dunkler, nahmen grelle Farben an -
Johnny Kindred kam neben einem Altar in einer riesigen Kirche zu Bewusstsein. In seinen Armen lag ein kleines Mädchen. Ihre Augen weiteten sich. Sie begann, in einer fremden Sprache auf ihn einzureden. Sie deutete auf etwas. In der Kirche stand ein schwarzer Wolf. Der sie beide anstarrte. Sein Pelz war mit hellrotem Blut verklebt. Blut und Geifer trieften von seinen Reißzähnen, die im Kerzenlicht golden schimmerten.
»Jonas wird dir nichts mehr tun«, beruhigte Johnny das Mädchen. »Ich habe ihn fortgeschickt.«
Der Wolf knurrte. Johnny spürte, er verstand beinahe, was das Tier gesagt hatte. Wenn Jonas dagewesen wäre, hätte er übersetzen können, aber der wurde von den anderen unterdrückt. Er würde auf keinen Fall in die Nähe der Lichtung gelangen.
»Der große böse Wolf wird dich nicht fressen«, tröstete Johnny die Kleine und streichelte ihr über das lockige Haar. »Er … er ist mein Vater.«
Es klopfte an Speranzas Tür.
Sie griff nach ihrem Morgenrock, setzte sich im Bett auf und rief: »Herein!«
Der kleine Junge, der die Tür öffnete, unterschied sich geringfügig von Johnny Kindred. Er war vornehm gekleidet: Frack, gestärktes Leinenhemd, ein altmodischer Stehkragen und eine weiße Fliege.
»Guten Morgen, Madam«, begrüßte er sie todernst.
»O Johnny.« Sie beschloss, ihn nicht nach der vergangenen Nacht zu fragen, wenigstens nicht, bevor sie ihre Fassung wiedergefunden hatte. »Du bist heute aber elegant angezogen.«
»Johnny lässt sich vorübergehend entschuldigen, Madam. Ich bin James Karney und stehe im Dienst dieses Hauses. Der Graf schickt mich. Ich soll Ihnen seine Ehrerbietung übermitteln und Sie einladen, ihm und seinen Gästen bei einem kleinen Frühstück Gesellschaft zu leisten.«
Ach ja. Sie erinnerte sich jetzt wieder an diesen Typ; er war während der chaotischen Ereignisse gestern Abend kurz aufgetaucht. Er stand stocksteif vor ihr und wartete auf ihre Antwort. Sie nickte und versprach ihm, sie werde in Kürze hinunterkommen.
Sie erkannte die Musik sofort! Es war wieder Schuberts Winterreise, diesmal gesungen von einem jungen Tenor, der auf einem Blüthner-Flügel begleitet wurde.
Eine lange Tafel war für zwei Dutzend Personen gedeckt worden - so viele Wölfe hatte sie gestern Nacht aus dem Haus laufen sehen. Ein Platz war frei - direkt gegenüber dem Grafen, der in ein paar Briefe vertieft war. Johnny - sie war sicher, dass es jetzt Johnny war, denn er hockte zusammengesunken auf seinem Stuhl und hielt sich nicht gerade und steif, wie es James Karney angemessen gewesen wäre - saß dem Grafen zur Rechten. Er spielte mit ein paar Zinnfiguren, amerikanischen Indianern.
Die Männer erhoben sich, als sie eintrat. Sie entdeckte Dr. Szymanowski, Chandraputra und Sigmund Freud, der den Platz rechts neben ihr eingenommen hatte. Einige der Frauen hatte sie gestern auf dem Ball gesehen, so zum Beispiel die blasierte, laut kreischende Dame in dem eleganten Kleid. Heute hatte sie sich verschwenderisch mit Straußenfedern geschmückt und rauchte genießerisch eine Zigarette, die in einer goldenen Spitze steckte.
»Ich dachte, es wäre Ihnen am angenehmsten, wenn einer Ihrer Mitmenschen neben Ihnen säße«, begrüßte sie der Graf, ohne von seinen Briefen aufzusehen. »Schließlich müssen Sie sich ziemlich einsam vorkommen, meine liebe Speranza. Wie wäre es mit etwas Kaviar? Oder möchten Sie lieber etwas Englischeres? Ich glaube, wir haben auch geräucherten Lachs.«
Als sie sich gesetzt hatte, flüsterte Freud ihr zu: »Sie sind allesamt verrückt geworden! Wirklich aufregend, finde ich.«
»Verrückt?«
»Aber ja! Massenhalluzinationen … lykanthropische Wahnvorstellungen … wirklich sehr, sehr aufregend. Sie haben die Morgenzeitung noch nicht gelesen, oder?« Er schob sie ihr hinüber. »Ach, aber sie ist auf Deutsch, je m’excuse, Fräulein. Wolfsangriffe … eine Petition an den Bischof … man hat sogar den Kaiser mitten in der Nacht aufgeweckt, um Himmels willen!«
»Ich habe etwas gesehen«, eröffnete Speranza ihm zaghaft.
»Ich fürchte, auf indirekte Weise sind wir für all das verantwortlich«, meinte Freud. »Sie müssen wissen, ein paar von Dr. Szymanowskis Wölfen, deren, äh, Fortpflanzung er studiert, sind gestern Nacht aus ihren Käfigen entflohen. Darf ich Ihnen etwas Kokain anbieten?«
»Vielleicht … ja, danke«, nahm
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