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Wolfsruf

Titel: Wolfsruf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S.P. Somtow
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paar Sekunden lang blickten sie einander an, ohne sich zu bewegen, ohne dem Kind irgendwelche Aufmerksamkeit zu schenken. In diesen Sekunden schienen sie einen Schwur auszutauschen, einander zum Partner beim Tanz des Todes zu erwählen.
    Dann sprang sein Vater. Er riss ihr mit seinen starken Kiefern die Gurgel heraus. Der Welpe erblickte einen kurzen Augenblick lang die noch pulsierende Trachea der Frau. Sie pfiff geisterhaft, als die Luft aus ihr entwich. Die Frau sank in sich zusammen, als der Vater des jungen Wolfes ihr den Brustkorb zerfetzte. Das schreiende Kind trommelte dem Wolf mit den Fäusten in die Flanke, aber der Vater des Welpen ignorierte es vollkommen. Blut quoll über die Stufen, vermischte sich mit
dem vergossenen Wein. Der Schal der Frau flatterte, zwischen ihrem Leib und den Stufen eingeklemmt, im Wind.
    Der Welpe roch die Angst des Kindes. Sie benebelte ihn. Er näherte sich dem Kind. Die Augen des Kindes weiteten sich erschrocken. Es wich zurück, stieg rückwärts die Stufen hinauf. Dann drehte es sich um und begann zu rennen. Der junge Wolf folgte. Das Blut des Kindes roch wärmer als das der Frau.
    An der obersten Stufe war eine Tür. Das Kind schlug mit seinen winzigen Fäusten dagegen. Die Tür bewegte sich nicht. Der Welpe sprang, bekam das Nachthemd zu fassen, riss Fleischfetzen aus dem Arm und dem Brustkorb des Kindes. Plötzlich gab die Tür nach. Vielleicht ein rostiger Riegel. Das Kind rannte hinein. Durch die Risse in dem dünnen Nachthemd sah der Wölfling eine kleine Vulva und erkannte das Geschlecht des Kindes.
    Er witterte Weihrauch. Und Staub. Und den süßen Hauch alten, verfaulenden Holzes. Im Hintergrund stand ein Altar. Eine bemalte Steinpieta hielt in einer Seitenkapelle Wache. Überall waren Kerzen.
    Das Mädchen rannte. Er folgte dem Tappen ihrer nackten Füße auf dem Steinboden. Sie versteckte sich irgendwo zwischen den Bänken. Sie keuchte. Er konnte ihre Erschöpfung, ihre Verzweiflung riechen. Es war nur eine Frage der Zeit. Er spürte sein Herz klopfen. Er vernahm auch ihren Herzschlag und hielt inne, um ihn zu orten.
    Dort! Er trabte den Gang hinunter. Sie war unter dem Altar. Er riss das Altartuch mit seinen Zähnen herunter und entdeckte sie, zusammengekauert und an ein Altarbein geklammert. Sie schluchzte. Er schleuderte sie zu Boden, stand dann über ihr, leckte ihr Gesicht mit seiner Zunge und nagte mit seinen Zähnen vorsichtig an ihren Wangen. Und er schaute sie an, wie sein Vater in die Augen der Frau geschaut hatte.
    Er sah ihre Angst. Und hinter ihrer Angst sah er etwas anderes - das fast wie eine Aufforderung war - die dunkle Seite der
Sehnsucht. Er begriff, dass dies ein heiliger Akt war, der Tanz von Leben und Tod. Das Mädchen zitterte. Schmerz raste in ihrem Körper. Er redete zu ihr in der Sprache des Waldes, bat sie um Vergebung; und sie antwortete ihm in derselben Sprache, die die Menschen bis zu solchen Augenblicken vergessen zu haben glauben, und gab ihm die Erlaubnis, ihr Leben zu nehmen.
    Er wollte sie zerfleischen, als ein langer Schatten über sie beide fiel. Er schaute auf und sah seinen Vater. Blut tropfte aus seinem Maul. Vom Eingang bis zum Altar zog sich eine dünne Blutspur. Seine Augen glühten. Sein Atem dampfte in der modrigen Luft.
    »Jetzt«, sagte sein Vater. »Töte. Fühle die Freude. Fühle das Blut. Bade in seiner Wärme.«
    »Ich empfinde keine Freude«, antwortete der junge Wolf. »Nur Trauer. Ich fühle mich mit ihr verwandt.«
    »Gut! Du verstehst das Gesetz des Waldes, mein Sohn! Die Menschen halten uns für seelenlose, grausame Bestien, aber das sind wir nicht. Wir sind nicht einfach Satans Kinder. Es gibt einige unter uns, denen das Töten Lust bereitet. Vielleicht sind sogar die meisten unserer Gemeinschaft so. Aber du empfindest mehr. Du bist wahrhaftig mein Sohn. Der Führer eines Rudels darf nicht nur ein Todesbote sein, muss seine Opfer lieben - jetzt, töte sie schnell. Blockiere ihr Nervensystem, damit sie den Schmerz nicht mehr spürt.«
    Der Wolf beugte sich über das Mädchen, bereit zum Zupacken. In diesem Augenblick hörte er seine innere Stimme: »Geh weg! Zurück in die Dunkelheit! Ich will den Körper!« Auch andere Stimmen meldeten sich. Menschliche Stimmen. Es gab eine Meuterei in seinem Geist! Die anderen Persönlichkeiten übernahmen das Kommando! Er kämpfte. Aber er verlor den Halt. Das Mädchen wehrte sich gegen ihn. Und das komplizierte Gewebe der Gerüche und Düfte um ihn herum zerfranste - er

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