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Wolfsruf

Titel: Wolfsruf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S.P. Somtow
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Vielleicht haben Sie den Eindruck, dass wir beide um die Seele des Jungen ringen. Sie sehen sich selbst dabei auf der Seite der Engel und mich natürlich auf der anderen Seite. Werden Sie Ihren Kampf fortsetzen, nach allem, was Sie inzwischen gesehen haben? Natürlich werden Sie, sollten Sie in meine Dienste treten, gezeichnet, damit keiner von uns Sie belästigt …«
    Sie konnte Johnny auf keinen Fall verlassen. Vielleicht hatte
Freuds Kokain ihr Selbstbewusstsein noch gesteigert, denn sie fühlte sich heute Morgen ungewöhnlich streitlustig. Ihr Leben lang hatte man sie herumkommandiert. Ihr Leben lang war sie nur wenig mehr gewesen als eine einfache Hausangestellte. Es war ihr noch nie in den Sinn gekommen, nach Amerika zu gehen, aber als Alternative blieb ihr nur die Rückkehr ins graue Aix-en-Provence; und sie sehnte sich danach, in ein fernes Land zu gehen, wo sie freier wäre und mehr als nur eine einfache Erzieherin. »Ich werde mitkommen«, erklärte sie. »Aber nicht als Ihre Sklavin. Zu meinen eigenen Bedingungen. Sie werden mich nicht brandmarken. Ich werde dank meiner Intelligenz überleben. Oder vielleicht dank diesem hier.«
    Sie zog den Brieföffner aus ihrem Dekolleté und hielt ihn hoch. Er sah lächerlich aus, fand sie. Aber die anderen wichen ängstlich vor ihm zurück, und die gefiederte Frau schrie sogar erschrocken auf.
    »Bravo!«, ermunterte Freud sie. »Sie haben wirklich den Bogen raus.«
    »Ich glaube, ich möchte noch eine Prise Kokain«, sagte sie und griff noch einmal zu.
    Der Graf funkelte sie an. »Ich lasse mich auf keinen Handel ein. Kommen Sie zu meinen Bedingungen mit uns oder gar nicht.«
    Sie zielte mit dem Brieföffner auf ihn. Er studierte ihn scheinbar gelassen, doch sie glaubte, in seinen Augen ein bisschen Furcht zu entdecken.
    Johnny schaute von seinen Spielsachen auf und sagte: »Bitte, Vater, ich möchte, dass sie mitkommt.«
    Sie wartete.
    »Gut«, beschloss der Graf. »Mein Sohn hat gesprochen.«
    Sie sah sich um. Alle fühlten sich in diesem Augenblick unbehaglich. Endlich durchbrach Freud das Schweigen, indem er sich erhob und ausrief: »Ein Hoch auf Ihr lykanthropisches Utopia, Graf! Mögen Sie es erschaffen!«

    Der Graf klatschte in die Hände, und die Diener schenkten allen frischen Champagner ein. »In Gedenken an diese lange Wanderung, die wir auf uns genommen haben … quer durch das verschneite Europa … bis zu dieser Stadt, dieser Kapitale …, um hier Dr. Szymanowskis großartige Vision zu hören und zu verwirklichen … werde ich in der Neuen Welt eine Stadt für unser Volk errichten. Sie soll Winterreise heißen, damit wir diese Reise durch den Schnee niemals vergessen.«
    »Amerika!«, kreischte die gefiederte Frau und leerte ihr Glas.
    »Amerika!«, wiederholten die anderen, Speranza eingeschlossen.
    Sie leerte ihr Glas ebenfalls. Dann wurden die Kelche auf den Boden geschmettert, und die Diener brachten neue herein. Johnny verließ seinen Platz und kam freudestrahlend zu ihr gelaufen, und sie küsste ihn auf beide Wangen. Irgendwie, dachte sie, beginnt für mich wirklich ein neues Leben.
    Der Champagner war ein ungewöhnlicher Jahrgang. Er war sehr leicht und süß - und hatte doch einen bitteren Nachgeschmack.

15
    An der Grenze zwischen Dakota und Nebraska
    Ein Tag nach Vollmond
     
    Sie hatten sich noch vor Tagesanbruch auf die Reise gemacht. Der Weg bergab war nicht leicht; Scott bewunderte Natalia Petrowna, die, im Damensattel reitend und das Gesicht hinter einem Schal verborgen, mit ihnen Schritt hielt. Sie scherte sich nicht um den eiskalten Wind, sondern starrte unverwandt geradeaus. Mehrere Male lenkte er sein Pferd neben sie und versuchte,
ein Gespräch zu beginnen. Aber sie antwortete ihm kein einziges Mal. Grumiaux kannte den Weg und ritt voraus.
    Es schneite nicht. Der Tag war strahlend hell. Der glitzernde Schnee blendete. Die Fichtenäste bogen sich immer noch unter der weißen Last. Es würde Wochen dauern, bevor es zu tauen begann. Er sehnte sich nach dem Sommer. Er begehrte auch die Frau neben sich, obwohl er nicht wusste, wie er ihr das begreiflich machen sollte. Das Opium von gestern Nacht verwirrte ihn noch immer. Er hatte von aufrecht stehenden Wölfinnen geträumt, in Serge-Mäntel gekleidet und mit üppigem, rotem Haar. Sie brachte ihn wirklich um den Verstand.
    Es ist nur der Winter, sagte er sich, es ist schon zu lange Winter. Sobald auch nur irgendetwas passiert, bin ich wie besessen davon.
    In Sheridan, einer Zeltstadt mit

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