Wolfsruf
das perfekte Land …, es ist wie für uns geschaffen, begreifst du das nicht? Nur der Lykanthropenverein … ein paar Grenzer … und die Wilden. Aber sie sind auch hier!«
Er wusste, dass sie sich keinesfalls irrte. »Ich werde dem Grafen darüber berichten müssen. Ich hoffe nur, dass es noch nicht zu spät ist. Vielleicht können wir noch einen anderen Ort finden … Die Wüste im Süden vielleicht, oder ein Land weiter im Norden …«
»Nein!«, widersprach sie entschieden. »Ich habe unseren Lagerplatz gesehen. Dort bei dem Hügel, den der Mann Weeping Wolf Rock nannte. Ich fühle es in meinem Herzen. Das ist der Ort, der einzige Ort.«
»Aber wenn er schon markiert ist …«
»Das ist mir egal! Du weißt sehr gut, dass das Rudel lagern wird, wo ich es befehle. Wir müssen uns einfach der anderen entledigen. Wir müssen das Territorium selbst markieren.«
»Aber das ändert alles.«
»Wir werden hier lagern«, bestimmte sie und zog sich den Schal fester ums Gesicht. »Ich habe mich entschieden und werde mich nicht umstimmen lassen.«
Wenigstens war es warm im Führerhaus. Das war das Beste, was man darüber sagen konnte. Aber als die Strecke steiler wurde, wurden sie ständig hin- und hergeworfen. Nur Grumiaux und der Lokführer schienen sich wohlzufühlen. Zeke, das sah Scott, musste sich anstrengen, um sich nicht zu übergeben. Die Russen hatten sich in eine Ecke zurückgezogen und unterhielten sich auf Russisch. Er konzentrierte sich darauf, die Landschaft zu beobachten. Schnee wurde zu beiden Seiten des Pfluges hochgeschleudert. Vor ihnen ging die Sonne unter, färbte den Schnee in den verschiedensten Schattierungen von Orange über Karmesinrot bis zu Burgunder. Im Norden hatten die schneebedeckten Fichten bereits das Grau der Dämmerung angenommen, der Himmel war rosa und tieflila gestreift.
Irgendwann fiel ihm auf, dass Natalia Petrowna nicht mehr in der Kabine war.
Die anderen schienen sich nicht darum zu kümmern. Wahrscheinlich ist sie nur nach hinten gegangen, überlegte er, und schaut sich den Tender an. Instinktiv beschloss er, ihr zu folgen.
Er trat hinaus. Der Wind war eiskalt. Der Zug schnaufte und bebte wie ein Metalltier. Im Tender war Holz gestapelt, sodass nur ein schmaler Mittelgang freiblieb, durch den sich ein Mann gerade noch quetschen konnte. Hinter den Holzstapeln sah er einen Schal flattern. Wahrscheinlich befand sich am hinteren Ende des Tenders eine Bank oder eine Plattform, auf der man sitzen konnte.
Er quetschte sich zwischen die Stapel. Jetzt glaubte er, ihren Schal - oder einen Zipfel ihres Serge-Mantels - irgendwo über den Holzstapeln zu sehen. Er stellte sich auf einen Holzscheit und entdeckte sie. Sie saß gefährlich nah am Rand des Stapels. Ihr Hintern befand sich mit seinem Kopf auf einer Höhe.
Ich sage lieber nichts, dachte er. Wenn sie merkt, dass ich hier bin, erschrickt sie und fällt vielleicht hinunter.
Er hielt den Atem an.
Sie löste ihren Mantel. Sie wand sich heraus. Er fiel direkt neben Scotts Gesicht zu Boden. Jetzt hob sie ihren Rock hoch, rollte ihn vorsichtig über die Hüfte, er konnte das Fischbein ihres Korsetts erkennen, als sie ihre Unterröcke hochzog.
Was hatte sie bloß vor? Ihn konnte nichts mehr überraschen. Vielleicht würde sie sich gleich in einen Werwolf verwandeln, wie vorhin Grumiaux scherzhaft gemeint hatte. Er würde ihr alles zutrauen. Ihr Unterleib strahlte einen moschusartigen Geruch aus, der viel stärker war als bei seiner Cousine Prudence, mit der er früher im Stall gespielt hatte.
Sie drehte sich zu ihm um. Ihr Gesicht war immer noch hinter dem Schal verborgen. Er wich zurück. Aber sie hatte ihre Augen geschlossen, und sie schien einen unbewussten Zorn zu unterdrücken. Konnte sie ihn etwa riechen? Aber der Wind wehte in die andere Richtung. Vielleicht erschien ihm deshalb ihr Geruch so aufdringlich.
Sie seufzte. Dann begann sie mit konzentrierter Miene in den Schnee zu pinkeln.
Wie peinlich, dachte Scott. Sie sind so damenhaft, wenn sie in männlicher Gesellschaft sind, und so ganz anders, wenn sie glauben, allein zu sein. Und ich dachte, sie würde etwas im Schilde führen. Der Franzose hat mich sogar so weit gebracht, dass ich fast erwartet hätte, sie würde gleich losheulen wie ein Wolf! Dabei ist sie nur dem Ruf der Natur gefolgt.
Zweiter Teil
WINTER EYES
1
1963: Omaha, Nebraska
Neumond
Aus Carrie Duprés Notizbuch.
Ich hatte schon vor 1963 einige Winter erlebt. Als Kind hatten mich meine
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